Blaupause für ein besseres Verständnis der Pandemie

Seit Jahrzehnten pl?dieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Expertinnen und Experten für ?ffentliche Gesundheit dafür, Vorbereitungen für die unvermeidbare Gefahr einer viralen Pandemie zu treffen. Infektionskrankheiten, ob nun scheinbar ?ungef?hrlich wie die Grippe? oder t?dlich wie Ebola, h?tten Warnung genug sein k?nnen – COVID-19 schien die Welt jedoch v?llig unvorbereitet getroffen zu haben.

AAAS 2021_An Epidemiological Blueprint for Understanding the Pandemic
Tanja Stadler, ETH Zürich, Michael Osterholm, University of Minnesota, und Linfa Wang, Duke-NUS Medical School - Referent*innen am wissenschaftlichen Beitrag der ETH Zürich beim AAAS 2021. Bild: ETH Zürich

Diese Woche legten drei zukunftsorientierte Forschende und Strategieexpertinnen und -experten auf dem Symposium der ETH Zürich beim Jahrestreffen 2021 der AAAS (American Association for the Advancement of Science) eine ?epidemiologische Blaupause zum Verst?ndnis pandemischer Entwicklungen? vor.

Die COVID-Detektive

Tanja Stadler_credit_ETH Zurich_Giulia Marthaler
Dr. Tanja Stadler, Assistenzprofessorin für Computational Evolution, ETH Zürich, und Mitglied der Schweizer Nationalen COVID-19 Science Task Force. Bild: ETH Zürich / Giulia Marthaler

Als forensische ?Ermittlungsberatende? à la Sherlock Holmes unterstützen Forschende derzeit Regierungen und Gesundheitsbeh?rden auf der ganzen Welt. Anhand zehntausender Proben k?nnen Epidemiologinnen und Epidemiologen wie Tanja Stadler, Professorin an der ETH Zürich, nun die Ausbreitung von SARS-CoV-2 in Gebieten nachvollziehen, in denen sonst keine Kontaktverfolgung m?glich ist. Anders als der berühmten Romanfigur stehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern heute Echtzeit-Statistiktools zur Verfügung, mit denen sie den genetischen Code verschiedener Virusvarianten entschlüsseln k?nnen. ?Wie beim Menschen liefert der genetische Code von Krankheitserregern eine Blaupause mit Informationen zu Entwicklung und Ursprung eines Virus?, erkl?rt Stadler, die der Swiss National COVID Science Task Force angeh?rt. ?Damit k?nnen wir den Typus und m?glichen Ursprung des Virusstammes untersuchen, der sich in einem Land ausbreitet, neue Varianten mit neuartigen Eigenschaften identifizieren und ihre Reproduktionsraten, also die durchschnittliche Zahl der Sekund?rinfektionen durch eine infizierte Person, ermitteln?.

Stadlers Team beobachtet die Ausbreitung neuer Varianten in der Schweiz und bringt die Sequenzen in einen internationalen Zusammenhang. Vor der Entdeckung der neuen Variante B.1.1.7 im Vereinigten K?nigreich nutzten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Genomdaten aus Stadlers Forschung, um eine andere Variante zu identifizieren, die im Sommer 2020 in Europa rasant um sich griff. Nach der ersten Entdeckung in einer l?ndlichen Region Spaniens führten einige Events mit Superspreading-Potenzial dazu, dass sich diese Variante rasch ausbreitete. Anders als B.1.1.7 ist die spanische Virusvariante anscheinend nicht ansteckender als der ursprüngliche Virusstamm. Diese Variante brach in der Sommerurlaubszeit aus und verbreitete sich wahrscheinlich über ausl?ndische G?ste, die nach Urlaubsende in die Schweiz, das Vereinigte K?nigreich und andere L?nder zurückkehrten.

Wie viele andere Viren mutiert auch SARS-CoV-2 alle zwei Wochen. Forschende konnten bislang noch nicht feststellen, wie schnell sich das Virus an das menschliche Immunsystem anpasst, und ob künftig j?hrliche Impfungen erforderlich sein werden. Schwierig wird es auch dadurch, dass Metadaten von Patientinnen und Patienten und Daten über Genomsequenzierungen nicht verknüpft sind. Dies ist eines von vielen Hindernissen, die ein umfassendes Verst?ndnis der Pandemieentwicklung erschweren. Liessen sich diese Informationen unter Schutz der Patientendaten verbinden, k?nnten Forschende laut Stadler wichtige Fragen zu neuen Varianten und ihren ?bertragungsraten besser beantworten.
 

Auf den Spuren von Tier X

Linfa Wang_Duke_NUS Medical School
Dr. Linfa Wang, Professor für Emerging Infectious Diseases an der Duke-NUS Medical School, Singapur. Bild: Duke-NUS Medical School

In den letzten 25 Jahren wurden einige der t?dlichsten zoonitischen Viren durch Flederm?use übertragen. Sie leben in ihren Kolonien dicht an dicht, k?nnen als einzige S?ugetiere fliegen und sind daher oft Zwischenwirt bei der ?bertragung zwischen Tieren (wie Pferden, Schweinen oder sogar Kamelen), oder sie übertragen den Virus direkt an den Menschen. Wie Professor Linfa Wang von der Duke-NUS Medical School erkl?rt, ist einer der besorgniserregenden Aspekte von SARS-CoV-2 die Tatsache, dass auch der Mensch das Virus auf andere Spezies übertragen kann, wie dies bei Nerzen und anderen Tieren bereits der Fall war. Tiere k?nnen dann ihrerseits mutierte Varianten zurück auf den Menschen übertragen, ein sogenanntes ?Spillback?.

Um künftige Viruspandemien einzud?mmen, wollen Expertinnen und Experten sowie Forschende weltweit ?Tier X? und damit den Ursprung von SARS-CoV-2 ausfindig machen. W?hrend es naheliegt, die Suche im chinesischen Wuhan zu beginnen, l?sst die grosse Anzahl an Fledermauskolonien in Teilen Südostasiens und Südchinas vermuten, dass ?hnliche Viren bereits seit vielen Jahren unter der Bev?lkerung dieser Regionen kursieren. Jüngste Erkenntnisse haben derartige Hypothesen nun best?tigt. Laut Professor Wang sind in den Fledermauskolonien Nordamerikas derzeit keine SARS-?hnlichen Viren zu finden. Angesichts eines m?glichen Spillbacks spricht er sich jedoch für eine serologische Untersuchung aus. Die Beobachtung von Ver?nderungen in Fledermauspopulationen k?nnte als Frühwarnsystem für künftige Bedrohungen der ?ffentlichen Gesundheit genutzt werden.

Im Mai 2020, nur 70 Tage nach Wangs erster Idee, entwickelten und patentierten er und sein Team für SARS-CoV-2 den ersten Test zum Nachweis neutralisierender Antik?rper, der von der U.S. Food and Drug Administration (FDA) zugelassen wurde. Der als cPass bekannte Test erfasst neutralisierende Antik?rper, die m?glicherweise bei der Entwicklung eines ?Immunit?tspasses“ helfen k?nnen. Zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) arbeitet Wang nun an einem globalen ?berwachungsprotokoll, einer internationalen Standardmasseinheit sowie an einem Test zum Nachweis neutralisierender Antik?rper. Vielleicht waren es diese heroischen Leistungen angesichts einer internationalen Pandemie, die ihm den inoffiziellen Titel ?Batman von Singapur? eingebracht haben.

Auge in Auge mit existenziellen Bedrohungen

Michael Osterholm_University of Minnesota
Dr. Michael Osterholm, Direktor des Center for Infectious Disease Research & Policy an der University of Minnesota. Dr. Osterholm war auch Mitglied des Biden Transition Teams COVID-?19 Advisory Board. Bild: Stuart Isett / Fortune Brainstorm Health

Mikroben sind weitaus ?lter als der Mensch und werden wahrscheinlich noch lange nach unserem Verschwinden fortbestehen. Und auch wenn es inmitten einer Pandemie nicht danach aussieht: ?In der modernen Medizin haben wir den Kampf gegen Mikroben – weitgehend – gewonnen?, sagt Dr. Michael Osterholm, Leiter des Forschungs- und Strategiezentrums für Infektionskrankheiten an der Hochschule Minnesota und Mitglied im COVID-19 Advisory Board des ?bergangsteams von US-Pr?sident Biden. Er hat einen grossen Teil seiner Karriere damit verbracht, wie ein Schachspieler die n?chste evolution?re Entwicklung von Mikroben vorherzusehen und für das ?ffentliche Gesundheitswesen Strategien zur Bek?mpfung noch unvorstellbarer Bedrohungen zu entwickeln.

Eine Blaupause zum Verst?ndnis pandemischer Entwicklungen erfordere ?kreative Vorstellungskraft, die F?higkeit, Undenkbares vorherzusehen und einen überzeugenden ?ffentlichen Aktionsplan auszuarbeiten?, sagt Osterholm. Mit Blick auf die Sterblichkeit von US-Soldaten im Ersten Weltkrieg weist er darauf hin, dass knapp sieben von acht amerikanischen Soldaten nicht im Kampf gefallen, sondern an der Spanischen Grippe von 1918 gestorben seien. Berücksichtigt man das historische Wissen über Pandemien und Ausbrüche von Krankheiten wie SARS, MERS und Ebola fragt Osterholm, warum die Welt derart von COVID-19 überrumpelt werden konnte und scheinbar ausserstande war, die Ausmasse der Folgen der Pandemie zu verstehen. Dabei sei die aktuelle Pandemie h?chstwahrscheinlich ?nicht einmal das ganz grosse Ding. Andere Influenzapandemien wie damals die Spanische Grippe k?nnten noch verheerender ausfallen als COVID-19.?

Infektionskrankheiten legen die Schw?chen globaler Gesellschaften offen, von den Ern?hrungssystemen bis hin zu demografischen Ungleichheiten. Wie Osterholm erkl?rt, br?uchten wir – laut Sch?tzungen im Jahr 2020 – für die Ern?hrung der knapp acht Milliarden Menschen auf der Welt rund 23 Milliarden Hühner und 678 Millionen Schweine. W?hrend Viren der avi?ren Influenza Menschen generell nicht infizieren, k?nnen sie auf Schweine übertragen werden, wenn diese in direkter N?he zu Hühnern gehalten werden. Schweine k?nnen von Viren sowohl menschlichen als auch tierischen Ursprungs befallen werden. Dabei findet ein genetischer Austausch statt und neue Mutationen entstehen, die auf den Menschen übertragen werden und ihn m?glicherweise auch t?ten k?nnen. Osterholm betont, dass bestimmte ethnische Gruppen und indigene V?lker aus unz?hligen Gründen unverh?ltnism?ssig stark betroffen sind – viele davon sind auf soziale Diskriminierung, Ungleichheit sowie Armut zurückzuführen.

Tanja Stadler, Linfa Wang und Michael Osterholm pl?dieren für einen international abgestimmten Massnahmenplan in der COVID-19-Pandemie. Osterholm zufolge braucht es Verst?ndnis und Wissen, wie ?ffentliche Massnahmen zum Gesundheitsschutz das Alltagsleben weltweit beeinflussen, denn: ?Die besten Impfungen und Massnahmen der Welt k?nnen nur dann Wirkung zeigen, wenn wir die Unterstützung und Akzeptanz der ?ffentlichkeit gewinnen.?

Weitere Informationen

Informationen über den Beitrag der ETH Zürich am AAAS 2021 k?nnen Sie auf dieser Seite finden: ETH Meets You at the AAAS 2021 with "An Epidemiological Blueprint for Understanding the Dynamics of a Pandemic."

Der Zugang zu externe Seite SPOTLIGHT VIDEOS mit allen Beitr?gen der Referent*innen erfordert eine Registrierung oder Medienakkreditierung beim AAAS. Sie k?nnen sich auf der AAAS 2021 Virtuellen Plattform und Videothek einloggen und dann nach "blueprint" suchen, um die zur ETH Session zugeh?rigen Videos zu finden.  

 

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