Lernen aus Fehlern
ETH-Psychologen untersuchen unter anderem in Spitälern, wodurch Fehler begünstigt werden, wie sie sich vermeiden lassen und was Ärzte- und Pflegeteams daraus lernen können.
Dieser Artikel erschien in Globe, Ausgabe
1/M?rz 2014:
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Die Operation ist in vollem Gange. ?rzte und OP-Schwes?tern arbeiten konzentriert, alles l?uft nach Plan. Doch pl?tzlich ver?ndert sich die Sauerstoffs?ttigung beim Patien?ten. Die Werte sinken. Merkt es der An?sthesist rechtzeitig, bevor es zu Komplikationen kommt? Und wenn nicht, macht ihn einer der Kolleginnen oder Kollegen darauf aufmerksam? Egal was passiert: In diesem Fall würde der Patient keinen Schaden nehmen. Denn auf dem OP-Tisch liegt ein Dummy, an dem eine Operation simuliert wird, die im realen Leben problematisch verlief.
Diesen realen Fall kennt das simulierende Team aller?dings nicht. Es erh?lt lediglich die Vorgabe, eine bestimmte Operation durchzuführen. Die Projektleiter haben dazu alle Daten des realen Patienten auf den Dummy übertragen, die Situation ist also identisch. Doch wird auch das Ergebnis gleich ausfallen und die Operation scheitern?
Die ETH-Arbeits- und Organisationspsychologen Gudela Grote und Theo Wehner haben solche Simulationen in mehreren Projekten professionell begleitet und deren Video?aufzeichnungen mit den jeweiligen Operationsteams aus?gewertet. Sie wollen mit den ?rzten und Pflegekr?ften herausfinden, wodurch Fehler begünstigt werden, wie sie sich vermeiden lassen und was man aus ihnen lernen kann.
?Es ist nicht das Wissen des Einzelnen, sondern das Handeln aller, was einen Fehler begünstigt oder verhindert.?Theo Wehner, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich
Beinahefehler reichen
Bei den Simulationen ist Fehlermachen durchaus erlaubt – auch wenn Theo Wehner davon überzeugt ist, dass schon ein Beinahefehler ausreicht, um daraus zu lernen. Zumal ?da habe ich noch mal Glück gehabt? im Gegensatz zu ?da habe ich einen Fehler gemacht? positiv besetzt sei. Denn Fehler machen, ist Wehner überzeugt, wird immer noch viel zu oft mit Scheitern und Versagen gleichgesetzt. ?Und im europ?ischen Kulturraum ist Scheitern ein Tabu. Es soll unter allen Umst?nden vermieden werden.? Entsprechend werden Fehler nur ungern publik gemacht – obwohl andere davon profitieren k?nnten.
Etwa in Spit?lern. Denn dort passieren Fehler erschre?ckend oft, wie ein Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, eine der gr?ssten Krankenversicherungen in Deutschland, jüngst enthüllte. Danach sterben in Deutsch?land j?hrlich rund 19'000 Menschen durch Behandlungs?fehler. Das sind etwa fünfmal so viele Menschen wie im Strassenverkehr. Organisationsprobleme, Stress, falsche Medikamente, Infektionen – die Gründe sind vielf?ltig.
?ben am künstlichen Patienten
Ein wesentlicher Faktor, das haben die ETH-Psychologen in diversen Studien herausgefunden, ist die mangelnde Kommunikation. So konnte Gudela Grote mit Kollegen in Simulationen zeigen, dass die Leistung von An?sthesie?teams wesentlich von ihrer F?higkeit abh?ngt, offen miteinander zu kommunizieren und auch Zweifel an der Leis?tung der Kollegen wohlwollend auszusprechen – ?speaking up? nennen das die Psychologen.
Rund 30 Teams aus je einem Arzt und einer An?sthesie?pflegefachkraft machten beispielsweise bei einer Studie am Universit?tsspital Zürich mit. Sie mussten künstliche Patienten für eine Operation in Narkose versetzen und ihnen einen Beatmungsschlauch in die Luftr?hre einführen – also eine Routinesituation. Wie im eingangs erw?hnten Fall er?schwerten auch hier die Trainingsleiter die ?bung, indem sie beispielsweise den Blutdruck, den Puls oder die Atem?frequenz manipulierten. Anhand der Videoaufzeichnungen studierten die ETH-Psychologen anschliessend, wie die Teilnehmer kommunizierten, w?hrend ?rzte die Teamleistung aus medizinischer Sicht bewerteten.
Im Fokus hatte das Forschungsteam von Gudela Grote eine typische Spitalsituation wie diese: Eine An?sthesiepflegerin hat w?hrend der Operation den Eindruck, dass etwas nicht richtig l?uft, oder sie vermutet, dass der Assistenz?arzt einen Fehler begeht, doch sie spricht ihre Bedenken nicht aus. Sei es, weil sie sich aufgrund ihrer Position nicht traut, oder weil sie negative Konsequenzen befürchtet. Gleiches beobachteten die Experten bei Assistenz?rzten gegen?über dem Ober- oder Chefarzt.
Offene Kommunikation hilft
Doch die Studien zeigen ganz klar: Im Operationssaal kommt es bei jenen Teams zu weniger Fehlern, in denen mehr und offener kommuniziert wird. ?Es ist nicht das Wissen des Einzelnen, sondern das Handeln aller, was einen Fehler begünstigt oder verhindert?, sagt Theo Weh?ner.
Das heisst: Fehler lassen sich in der Regel nicht nur einer Person anlasten, wie dies im Alltag allzu gerne getan wird. Auch wenn die Interpretation ?Der An?sthesist war schuld? in den obigen Beispielf?llen am einfachsten und naheliegendsten w?re, wenn etwas schiefgehen würde. Doch so einfach ist es offensichtlich nicht. Es ist das Miteinander, die Teamleistung, die entscheidend zum Erfolg oder Misserfolg einer Operation beitr?gt.
Vor allem starre Hierarchiestrukturen stehen einer offe?nen Fehlerkultur im Weg. Nur langsam entwickelt sich auch in der Medizin eine Kultur, die den Fehler enttabui?siert und ihn ?ffentlich macht. So findet man mittlerweile auch in Kliniken, was in der Luftfahrt schon lange zum Alltag geh?rt: ein ?Critical Incident Reporting System?. Aller?dings fristet es laut Wehner in vielen Spit?lern noch ein Schattendasein. In diesem Fehlerberichtssystem k?nnen ?rzte anonym kritische Vorkommnisse melden. Diese Re?ports k?nnen dann von anderen Medizinern eingesehen werden, so dass diese daraus lernen k?nnen und derartige Fehler sich künftig besser vermeiden lassen.
Erfolgreiche Fehler
Doch in bestimmten Situationen, und das ist das Paradoxe, führen Fehler auch zum Erfolg. Manchmal ist es gerade das unkonventionelle, gegen alle Regeln verstossende Han?deln, das einen Menschen gewinnen statt scheitern l?sst. Etwa jenen Piloten, der am 15. Januar 2009 kurz nach dem Start in New York aufgrund von Triebwerksproblemen ge?gen alle Vorschriften verstiess und seine Maschine auf dem Hudson River notlandete, womit er das Leben der 150 Passagiere an Bord rettete. Er wird heute als Held gefeiert. Doch w?re die Landung schiefgelaufen, w?re er als Befehlsverweigerer in seinem Job gescheitert.
Und dann gibt es neben dem Fehler ja auch noch den Irrtum. Ersteren begeht jemand, obwohl sie oder er es besser weiss; beim Irrtum dagegen fehle der betreffenden Person das Wissen, erkl?rt Wehner. Wenn ich also eigent?lich weiss, wie ich auf eine Autobahn auffahre, aber pl?tz?lich als Geisterfahrer unterwegs bin, begehe ich einen Feh?ler. Columbus aber, der nach seinem Wissensstand Amerika als Westindien bezeichnete, war im Irrtum. Er wusste es damals nicht besser.
Eindeutig schwerer zu verstehen und zu analysieren sind Fehler. Ihren Ursachen auf die Schliche zu kommen ist ein Lieblingsthema von Theo Wehner. Manchmal knabbert er als Gutachter Jahre an einem Fall, um herauszufinden, was einen Menschen dazu bewogen hat, so zu handeln, wie er gehandelt hat. Und was auf den ersten Blick viel?leicht v?llig unverst?ndlich war, entpuppt sich am Ende als: menschlich.
Fehlerfreundliche Technik
Zwar kann eine fehlerfreundliche Technik viele Bedienungs?fehler des Menschen ?verzeihen?. Deshalb, so der Arbeits?psychologe, sei auch die Zusammenarbeit zwischen Ingenieuren und Geistes- und Sozialwissenschaftlern so wichtig. Um dem Fehlergedanken mehr Raum bei der Entwicklung von Maschinen und Ger?ten zu geben. Das ist ein Grund, warum Theo Wehner damals an die ETH kam.
Doch dürfe man bei aller wissenschaftlichen Betrachtung eines nie vergessen, resümiert der Psychologe: Fehler, Irr?tümer und damit auch das Scheitern geh?ren zum Leben. Es sei geradezu ein Privileg, scheitern zu k?nnen: ?Wenn mir auf Anhieb alles gelingt, habe ich keine Herausforde?rung, um etwas zu ver?ndern und meinen Handlungsspiel?raum zu erweitern.?
Und keine M?glichkeit, das n?chste Mal besser zu schei?tern. Wie sagte doch der irische Schriftsteller und Literatur?nobelpreistr?ger Samuel Beckett so sch?n: Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.