Wenn der Donut zum Apfel wird

In Experimenten mit dem ?Wundermaterial? Graphen konnten ETH-Forscher ein Ph?nomen nachweisen, das ein russischer Physiker vor über 50 Jahren vorhergesagt hatte. Sie untersuchten eine Schichtstruktur, von der sich die Fachleute ungeahnte M?glichkeiten erhoffen.

Vergr?sserte Ansicht: anastasia varlet
Anastasia Varlet bereitet ein Experiment nahe am absoluten Nullpunkt vor. (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich)

Anastasia Varlet arbeitet als Doktorandin in der Forschungsgruppe von ETH-Professor Klaus Ensslin am Laboratorium für Festk?rperphysik. Ihr gelang es, zwei Forschungspapers in der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift ?Physical Review Letters? hintereinander zu publizieren. Beide Arbeiten stützen sich auf Messungen am selben elektronischen Bauelement, einer Sandwichkonstruktion mit Graphen – einem Material aus Kohlenstoff, das eine bienenwabenf?rmigen Schicht bildet, die nur ein Atom dick ist. Einlagiges Graphen ist extrem stabil, elastisch und leitf?hig. Besonders interessant für elektronische Anwendungen wird das ?Wundermaterial?, wenn man zwei Schichten übereinander legt. Das doppellagige Graphen wird zum Halbleiter, mit dem sich elektronische Schalter konstruieren lassen.

Die Qualit?t von Varlets Bauelement aus doppellagigem Graphen war so gut, dass die Forscherin bei ihren Messungen ein v?llig unerwartetes Resultat erzielte. ?Wir konnten einen sogenannten Lifshitz-?bergang nachweisen?, sagt sie. Um zu erkl?ren, worum es sich dabei handelt, greifen die Physiker zu Kaffeetasse und Wasserglas. Die Tasse hat einen Henkel mit einem Loch. Daher ist es m?glich, ein geometrisch definiertes Objekt von der Form einer Tasse mit mathematischen Funktionen in einen Donut zu verformen. Auch ein solcher besitzt ein Loch. Ein Glas hingegen l?sst sich wegen des fehlenden Lochs nicht in einen Donut verformen. Mathematisch gesprochen hat eine Tasse dieselbe Topologie wie ein Donut. ?Ein Glas hingegen ist topologisch das Gleiche wie ein Apfel?, erkl?rt Ensslin.

Ver?ndert man die Topologie eines Objekts, kann man dessen Zweckm?ssigkeit verbessern, zum Beispiel wenn man einen Becher in eine Tasse mit Henkel verwandelt. Eigentlich ist das gar nicht m?glich. Dennoch gelang nun genau dies den ETH-Forschern mit Hilfe von doppellagigem Graphen. Denn ein Lifshitz-?bergang ist ein Wechsel von einer Topologie zu einer anderen. Benannt ist er nach einem russischen Physiker, der diese M?glichkeit 1960 vorausgesagt hat. Allerdings geht es dabei nicht um Objekte in unserer normalen Umgebung. Vielmehr untersuchen die Physiker bei elektronischen Materialien eine abstraktere Topologie von Fl?chen, mit denen die Energiezust?nde der Elektronen beschrieben werden. Insbesondere betrachten die Forscher Fl?chen konstanter Energie, denn diese bestimmen die Leitf?higkeit des Materials und damit deren Anwendungspotential.

Drei Inseln im See

Um das mathematische Konzept dieser Energiefl?chen anschaulich zu machen, greift Ensslin wieder zu einem Vergleich: ?Man kann sich eine hügelige Landschaft vorstellen, bei der sich die T?ler mit elektrischen Ladungen füllen, wie wenn bei Regen das Wasser zwischen den Hügeln steigt.? So wird aus einem anf?nglichen Isolator ein leitendes Material. H?rt es auf zu regnen, hat das Wasser einen See gebildet, aus dem einzelne Berge wie Inseln herausragen. Genau dies beobachtete ETH-Doktorandin Varlet beim Experiment mit dem doppellagigen Graphen: Bei geringem Wasserstand gibt es drei voneinander unabh?ngige aber ?quivalente Seen. Mit zunehmendem Wasserstand verbinden sich die drei Seen zu einem grossen Ozean. ?Die Topologie hat sich v?llig ge?ndert?, schliesst Varlet. So, als w?re aus dem Donut ein Apfel geworden.

Vergr?sserte Ansicht:  Anastasia Varlet und Klaus Ensslin
Anastasia Varlet und Klaus Ensslin diskutieren über das Experiment. (Bild: P. Rüegg/ETH Zürich)

Bisher fehlte das richtige Material, dass Wissenschaftler einen solchen Lifshitz-?bergang im Experiment zeigen konnten. Metalle eignen sich für den Nachweis nicht. Und auch das ETH-Team war sich zuerst gar nicht bewusst, dass es einen solchen gefunden hatte. ?Wir beobachteten in unseren Messungen mit der Graphen-Sandwichkonstruktion etwas Seltsames, das wir nicht erkl?ren konnten?, sagt Varlet. Bei Diskussionen konnte ein russischer Theoretiker, Vladimir Falko, ihre Messungen deuten.

Billiges Rohmaterial

Zur Herstellung ihrer Sandwichkonstruktion umschloss Varlet die beiden Graphenschichten mit zwei Lagen aus Bornitrid, einem Material, das sonst zu Schmierzwecken verwendet wird und eine extrem glatte Oberfl?che hat. Beide Stoffe sind billig, doch die erforderliche Arbeit im Reinraum ist aufwendig. Nur wenn die verwendeten Kohlenstoffflocken ?usserst sauber sind, l?sst sich daraus ein funktionierendes Bauelement fabrizieren. ?Ein Grossteil meiner Arbeit besteht in der Reinigung unseres Graphens?, sagt Varlet. Das Besondere an ihren Proben sei, dass diese gigantisch starken, elektrischen Feldern standhielten, sagt ihr Chef. Erst so wurden die jetzt publizierten Arbeiten m?glich.

?ber eine praktische Anwendung des beobachteten Ph?nomens l?sst sich zurzeit nur vage spekulieren. So ist die Topologie von Quantenzust?nden eine M?glichkeit, diese von ihrer Umgebung zu entkoppeln und damit eventuell besonders stabile Quantenzust?nde zu realisieren, die dann für Informationsverarbeitung nützlich sein k?nnten. Doch einstweilen geht es den Forschern vor allem um das bessere Verst?ndnis der Bauelemente aus doppellagigem Graphen.

Nationale und europ?ische Zusammenarbeit

Das Team ist Teil des Forschungsverbundes Quantum Science and Technology (QSIT) an dem neben der ETH Zürich auch Gruppen von den Universit?ten Basel, Lausanne und Genf sowie von IBM mitwirken. Klaus Ensslin ist Direktor dieses Nationalen Forschungsschwerpunkts. Sein Team ist auch am EU-Projekt ?Graphene Flagship? beteiligt. ?Dabei geht es um die Entwicklung v?llig neuer Materialien?, sagt der ETH-Professor. Im Vordergrund stehen Strukturen, die aus verschiedenen dünnsten Schichten aufgebaut sind, wie das Element von Anastasia Varlet.

Literaturhinweis

Varlet A, Bischoff D, Simonet P, Watanabe K, Taniguchi T, Ihn T, Ensslin K, Mucha-Kruczyński M, Falko VI: Anomalous Sequence of Quantum Hall Liquids Revealing a Tunable Lifshitz Transition in Bilayer Graphene. Physical Review Letters 2014, 113: 116602. DOI: externe Seite 10.1103/PhysRevLett.113.116602

Varlet A, Liu MH, Krueckl V, Bischoff D, Simonet P, Watanabe K, Taniguchi T, Richter K, Ensslin K, Ihn T: Fabry-Pérot Interference in Gapped Bilayer Graphene with Broken Anti-Klein Tunneling. Physical Review Letters 2014, 113: 116601 DOI: externe Seite 10.1103/PhysRevLett.113.116601

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