Der Erfolgscocktail wurde geschüttelt

Graphen gilt als Wundermaterial der Zukunft. Das Material aus einer Schicht von Kohlenstoffatomen, angeordnet in einem wabenf?rmigen Gitter, ist extrem stabil, elastisch, leitf?hig und f¨¹r elektronische Anwendungen besonders interessant. ETH-Professor Tilman Esslinger und seine Gruppe am Institut f¨¹r Quantenelektronik untersuchen k¨¹nstliches Graphen. Ihre Wabenstruktur besteht nicht aus Atomen, sondern aus Licht. Die Forscher richten dazu mehrere Laserstrahlen so aus, dass sich stehende Wellen bilden und zu Sechsecken addieren. Dieses optische Gitter wird ¨¹ber Kaliumatome gelegt, die in einer Vakuumkammer auf Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt abgek¨¹hlt wurden. Gefangen in der hexagonalen Struktur verhalten sich die Kaliumatome wie die Elektronen in Graphen.

?Wir arbeiten mit Atomen in Laserstrahlen, weil wir damit ein System haben, das sich besser kontrollieren und einfacher beobachten l?sst als das Material selbst?, erkl?rt Physikdoktorand Gregor Jotzu. Da es den Forschern vor allem darum geht, quantenmechanische Wechselwirkungen nachzuvollziehen, bezeichnen sie ihr System auch als Quantensimulator.

Mit Hilfe dieser Testanordnung gelang ihnen jetzt die Realisation einer Idee, die der britische Physiker Duncan Haldane 1988 ver?ffentlicht hatte. Festk?rperphysiker h?tten gehofft, sie k?nnten Haldanes Modell mit realem Graphen verwirklichen ¨C bisher vergeblich, sagt Tilman Esslinger: ?Nun gelang uns dies mit einem anderen System. Das ist ein sehr sch?ner und auch neuer Schritt.?

Die Zeitsymmetrie brechen

Haldane hatte vorgeschlagen, dass es eine neue Klasse von Materialien mit ungew?hnlichen Eigenschaften geben k?nnte, die durch deren so genannte Topologie bestimmt sind. Mathematisch betrachtet haben Objekte die gleiche Topologie, wenn man sie durch stetiges Verformen wie Stauchen oder Ziehen ineinander umformen kann, so wie das bei einer Orange und einer Banane m?glich w?re. Braucht es f¨¹r die Transformation einen Schnitt, sind die Objekte topologisch verschieden. So l?sst sich eine M?biusschleife nicht in ein normales Band verwandeln, ohne sie zu zerschneiden und neu zusammenzuf¨¹gen.

Im Haldane-Modell hat das betrachtete System nicht mehr die gleiche Topologie wie in gew?hnlichen Materialien. Um dieses System zu realisieren, braucht es eine besondere ?Zutat?, die Physiker sprechen dabei von einer Symmetriebrechung: Die Zeitumkehr bricht. Das bedeutet, dass sich das System nicht gleich verh?lt, wenn man die Zeit r¨¹ckw?rts laufen l?sst.

Normalerweise sieht ein physikalisches System gleich aus, ob man die Zeit vorw?rts oder r¨¹ckw?rts laufen l?sst. Das heisst, diese Symmetriebrechung geschieht nicht. Theoretisch liesse sie sich aber im realen Material mit Magnetfeldern realisieren. Allerdings m¨¹ssten die Magnete dazu kleiner sein als der Abstand von Atomen in einem Festk?rper, also rund 0,1 Nanometer. Sie m¨¹ssten demnach extrem pr?zis platziert werden.

?Die Teilchen erleben eine verdrehte Welt?

Im Quantensimulator jedoch k?nnen die Forscher die Zeitumkehr mit einem relativ einfachen Trick brechen, wie sie nun im Fachjournal Nature berichten. ?Wir sch¨¹tteln das ganze System im Kreis?, sagt Jotzu. Dazu setzen die Forscher kleine Piezokristalle auf Spiegel, die das Laserlicht reflektieren. Dann lassen sie die Piezokristalle vibrieren. ?Das ist h?rbar wie ein hoher Fl?tenton?, so der Physiker. Bei der richtigen Frequenz und St?rke fallen die Atome nicht aus dem Lasergitter, wie man erwarten k?nnte, sondern bleiben gefangen.

Bewegen die Forscher das System nur auf einer Linie hin und her, verhalten sich die Atome weiterhin normal. Doch beim Sch¨¹tteln im Kreis passiert es: ?Die Teilchen erleben eine verdrehte Welt?, erkl?rt Esslinger, so wie sich das Fortbewegen auf einer M?biusschleife von demjenigen auf einem normalen Band unterscheiden w¨¹rde. Die Topologie und damit die Eigenschaften des Systems haben sich ge?ndert, als w?re es ein v?llig anderes, neues Material.

Testen, was noch nicht existiert

Dass sie das topologische Haldane-Modell experimentell realisieren konnten, habe sie ¨¹berrascht, sagt der ETH-Professor. ?Etwas aus der H¨¹fte geschossen? sei der Versuch gewesen. Entsprechend feierten die Forscher ihren Erfolg denn auch mit dem passenden Drink ¨C gesch¨¹ttelt. Doch Esslinger warnt vor voreiligen Schl¨¹ssen: ?Wir selbst stellen keine neuen Materialien her, wir testen nur Konzepte.? Dabei sind die Experimente mit Laser und ultrakalten Atomen den Computersimulationen ¨¹berlegen, wenn ein System zu komplex f¨¹r die Berechnungen ist. ?Damit k?nnen wir die Eigenschaften von Materialien untersuchen, die es noch gar nicht gibt?, sagt Gregor Jotzu.

Ob sich das jetzt im Quantensimulator erhaltene Resultat dereinst auf reales Material ¨¹bertragen l?sst, ist noch ungewiss. Doch Ideen gibt es bereits: W¨¹rde man auf echtes Graphen zirkumpolarisiertes Licht schicken, k?nnte das eine ?hnliche Wirkung haben, wie wenn man k¨¹nstliches Graphen im Kreis sch¨¹ttelt. Diesen Vorschlag h?tten zwei japanische Kollegen gemacht, als sie an der ETH zu Besuch waren, erz?hlt Esslinger. Damit k?nnte es beispielsweise k¨¹nftig m?glich werden, mit Lichtsteuerung aus einem leitenden Material einen Isolator zu machen und umgekehrt. Die elektronischen Anwendungen f¨¹r ein derartiges System, das besonders schnell reagieren k?nnte, w?ren ?usserst vielf?ltig.

Die Arbeiten am Institut f¨¹r Quantenelektronik wurden im Rahmen des Forschungsverbundes Quantum Science and Technology (QSIT) durchgef¨¹hrt. Am QSIT sind neben der ETH Z¨¹rich auch Gruppen von den Universit?ten Basel, Lausanne, Genf und IBM Research beteiligt.