Welches Wachstum wollen wir?

Es ist Montagabend, das Podium zum Auftakt der Nachhaltigkeitswoche lockt mit einer Diskussion ¨¹ber ?unendliches Wirtschaftswachstum auf einem endlichen Planeten?, und ich staune nicht schlecht, denn das Auditorium der Uni Z¨¹rich ist fast bis auf den letzten Platz voll. Das Thema und die verwandte Forderung der Organisatoren [1] nach mehr Wachstumskritik [2] in Lehre und Forschung besch?ftigen uns Hochschulangeh?rige offenbar geh?rig. Das liegt vielleicht auch daran, dass das Podium hochkar?tig besetzt ist: Matthias Schmelzer forscht an der Uni Z¨¹rich zu Wirtschaftsgeschichte; Irmi Seidl lehrt ?kologische ?konomik an der WSL und ETH und hat f¨¹r diesen Blog auch schon Beitr?ge ¨¹ber Wachstum verfasst; Lucas Bretschger ist Professor f¨¹r Ressourcen?konomie an der ETH; und Rudolf Minsch ist Chef?konom von Economiesuisse.

Ich habe folgende drei Fragen f¨¹rs Podium mitgebracht:

• Was bedeutet Wirtschaftswachstum (und was nicht)?
• Wie wichtig ist Wachstum (und f¨¹r was)?
• Wie s?he unsere Gesellschaft ohne Wachstum aus?

Was also bedeutet Wachstum?

Im ?konomischen Kontext ist damit meist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemeint, also wie viel eine Gesellschaft erwirtschaftet. Doch was w?chst, wenn die Wirtschaft w?chst? Schon dar¨¹ber gehen die Meinungen auseinander. Denn um Wachstum zu erfassen, sind verschiedene Indikatoren wichtig. Rudolf Minsch streicht heraus, dass es der Schweizer Wirtschaft als einer der wenigen weltweit gelang, in den letzten Jahren zwar zu wachsen, aber nicht mehr CO₂ zu verursachen. Wachstum m¨¹sse folglich nicht automatisch die Umwelt st?rker belasten. Matthias Schmelzer gibt zu bedenken, dass wir Schweizer einen grossen Teil der konsumierten Produkte und Dienstleistungen importierten, und ergo die gr?sste Umweltbelastung im Ausland anfalle.

F¨¹r Irmi Seidl steht fest, dass das Wachstum in der Schweiz anderswo erfolge, n?mlich in der Fl?che durch die Zersiedelung mit all ihren ?kologischen und gesellschaftlichen Kosten. Hier hakt Lucas Bretschger ein und unterscheidet zwischen quantitativem Wachstum ¨C also mehr vom gleichen, zum Beispiel immer mehr Wohnfl?che pro Person ¨C und qualitativem Wachstum ¨C Dinge, die uns mehr bringen. Dazu z?hlt er klassische Konsumprodukte, aber auch immaterielle G¨¹ter wie Freizeit oder gute Nachbarschaft. Seidl erwidert, der Begriff t?ne gut, aber sei letztlich nicht klar definiert.

Mein erstes Fazit: Wachstum schlicht mit dem BIP gleichzusetzten, greift zu kurz. Was zus?tzlich mitber¨¹cksichtigt werden soll, ist aber umstritten. Sinnvoll w?re, m?glichst auch schwierig messbare Kriterien (wie pers?nliches Gl¨¹ck, gesellschaftliche Entwicklung oder die Umweltqualit?t) zu betrachten, denn genau auf diese Variablen kommt es an, wenn wir uns ¨¹berlegen, ob wir Wachstum anstreben m?chten oder nicht.

Wof¨¹r ist Wachstum nun wichtig?

Die Menschheit hat die l?ngste Zeit ohne substantielles Wachstum gelebt. Erst in den letzten rund 200 Jahren wurde Wachstum im Zuge der Industrialisierung zum zentralen Prozess, an den sich die entwickelten Gesellschaften gew?hnt haben: Unser Renten- und Gesundheitssystem, die Konsumindustrie sowie der gesamte Banken- und Finanzsektor sind systembedingt wachstumsabh?ngig. Irmi Seidl ist dennoch ¨¹berzeugt, dass die Gesellschaft auch ohne Wachstum auskommen kann. Dies auch weil in reichen westlichen L?ndern Wohlstand und Gl¨¹ck der Menschen schon lange nicht mehr korrelierten. Schmelzer f¨¹gt Indien als weiteres Beispiel an, ein Land mit hohem Wachstum, aber wenig Entwicklung. Zudem sei die Frage nach der Verteilung ebenso wichtig, sagt er.

Rudolf Minsch h?lt wiederum fest, dass das Geld nun mal nicht vom Himmel falle. Wenn die Wirtschaft wachse, n?hmen die Steuereinnahmen zu, und damit liessen sich Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit und mehr finanzieren. Seidl und Schmelzer entgegnen prompt, dass dies genau den Kern des Problems treffe, dass n?mlich wesentliche Teile unserer Gesellschaft nur dann funktionierten, wenn die Wirtschaft wachse. Auch f¨¹r Lucas Bretschger ist Wachstum nicht zwingend. Am Ende des Tages sei entscheidend, dass sich die Gesellschaft und damit wir alle dar¨¹ber im Klaren sind, was wir wollen, und entsprechend danach handeln.

Mein zweites Fazit: Wir sind nun an einem Punkt, wo wir uns entscheiden k?nnen oder ¨C je nach Haltung ¨C m¨¹ssen, ob wir weiterhin auf Wachstum setzen wollen. Wenn nicht, hiesse das aber auch, dass wir unser Wirtschaftssystem radikal umbauen m¨¹ssten.

Gesellschaft ohne Wachstum?

Kein Wachstum bedeute viel Unsicherheit, und Unsicherheit in den M?rkten sei immer ein Problem, f¨¹hrt Lucas Bretschger am Beispiel des Energiesektors aus. Rudolf Minsch denkt, dass die Unternehmen gewisse Stellen wegrationalisieren und sich noch st?rker auf hohe Wertsch?pfung und Qualit?t konzentrieren w¨¹rden. Er glaube aber grunds?tzlich nicht, dass die Menschen aufh?rten, nach einem besseren Leben zu streben und darum neue und bessere Produkte zu wollen.

Matthias Schmelzer sagt, dass er genau das Gegenteil beobachte. Zahlreiche Bewegungen probierten Neues aus, konsumierten bescheiden und k?nnten sich darum ein reduziertes Arbeitspensum leisten. Auch f¨¹r Irmi Seidl ist die Arbeit ein zentraler Punkt. Nur eine Verk¨¹rzung der Arbeitszeit stelle sicher, dass jede und jeder von einer Erwerbsarbeit leben kann, wenn insgesamt weniger produziert wird.

Mein drittes Fazit: Die Kritik am Wachstum w?chst, und damit das Interesse an Perspektiven einer Wirtschaft ohne Wachstumsparadigma. Leider fehlt es mir hier an konkreten Vorschl?gen, zum Beispiel wie man die Altersvorsorge umorganisieren m¨¹sste. Wie eine ?Postwachstumsgesellschaft? genau beschaffen w?re, bleibt darum auch nach der Diskussion etwas diffus.

F¨¹r mich steht damit fest, dass ich noch an weitere Anl?sse der Nachhaltigkeitswoche gehe, denn gewisse Aspekte tauchen nochmals auf. Das Programm [3] ist auf jeden Fall sehr einladend.