Leitbild für die digitale Landwirtschaft

Digitalisierung fasziniert: So begeistert wir in den vergangenen Jahren in unsere Smartphones schauten, um die witzigsten Videos und s¨¹ssesten Katzenfotos zu teilen, so gebannt werden wohl k¨¹nftig auch die jungen Landwirte ihre Digitalbrillen oder sonstige Ger?te konsultieren, um relevante Analysen und Entscheidungshilfen f¨¹r ihre Arbeit zu erhalten. Die Daten daf¨¹r k?nnten autonom fliegende Multicopter sammeln, die den Zustand des Feldes auf der Basis empirischer Formeln einstufen und quasi individualisierte Pflegetipps f¨¹r einzelne Pflanzen liefern ¨C in Bio oder konventionell. Darf¡®s hier ein bisschen mehr Mist und dort ein wenig vom neuesten Insektizid sein? Soll die Tomate noch etwas l?nger dursten, damit das ideale Aroma reift? Zeigt die Temperatur von Kuh Lotte an, dass die Besamung erst am Nachmittag erfolgen sollte? Und gen¨¹gt es, das Kraftfutter kommende Woche zu kaufen, wenn die M?rkte sich beruhigt haben?

Die Automatisierungswelle schwappt aufs Feld

Solche Fragen stellen sich die ?Siris? der Landwirtschaft bereits heute ¨C wenn auch erst in Versuchsanlagen. Tats?chlich staksen sechsbeinige Roboter namens Prospero [1] ¨¹ber Testfelder in den USA und legen einzelne Maisk?rner dort ab, wo sich die Pflanze sp?ter besonders g¨¹nstig im Verbund entwickeln sollte. Und Bonirob [2] f?hrt schon seit l?ngerem autonom ¨¹ber deutsche Felder, vermisst Pflanzen, beprobt den Boden und j?tet Unkr?uter, wenn sie die Hauptkultur st?ren.

Man braucht kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass sich auch die Landwirtschaft unaufhaltsam digitalisiert: Die Automatisierungswelle kommt ¨C so sicher wie der Apfel sowohl im Paradies als auch bei Schneewittchen verzehrt werden musste. Zu verf¨¹hrerisch sind die Verheissungen der Technik, zu verlockend das Versprechen gesteigerter Effizienz.

Brauchen wir dazu eine Haltung?

Doch unsere Jahrtausende alte Erfahrung mit ?pfeln sollte uns vorsichtig stimmen. Nicht alles, wonach es uns zun?chst gel¨¹stet, bekommt uns am Ende gut. Gerade in der Landwirtschaft und der Ern?hrung sind Vielfalt und Abwechslung Trumpf ¨C einfache, holzschnittartige L?sungsans?tze zeigen meist recht bald erhebliche Schw?chen. Nahrungsmittelproduktion ist enorm komplex: Millionen von Organismen beeinflussen in einem Liter Boden die Leistung der Kulturpflanze, die darauf w?chst; Tausende von Inhaltsstoffen der Pflanze beeinflussen die Kuh, die sie frisst. Wir k?nnen das alles noch nicht in eine korrekte Formel packen. Aber ist das ein Grund daf¨¹r, keine Formeln aufzustellen?

Ich finde, nein. Die Frage ist vielmehr: Welche Formelwerke etablieren wir als n?chstes? Soll die Digitalisierung kurzfristig die Kosten senken oder langfristig helfen, Umweltressourcen zu erhalten? Welchen Apfel soll sie uns schmackhaft machen? Im internationalen Vergleich ist unsere Landwirtschaft sehr nachhaltig; egal, ob ein Bio-Label draufsteht oder nicht. Und unsere Landwirte und Landwirtinnen sind hervorragend ausgebildet. Darum denke ich, wir sollten uns einmischen und heute entscheiden, welche Fragen die Technik von morgen adressieren und beantworten soll.

Big Data auf dem Hof ¨C Bauer sucht Job?

Eine entscheidende Frage wird sein: Was bleibt dem Landwirt noch zu tun, wenn die Landwirtschaft digitalisiert und automatisiert ist? Degradiert er zum Hilfsknecht der Algorithmen und Maschinen, der die wenigen verbleibenden Handgriffe ausf¨¹hrt ¨C oder erh?lt er eine neue Rolle? Ich glaube, er wird prim?r als technisch versierter Forscher gefragt sein: Neue Krankheiten werden kommen, fremde Organismen einwandern, Spezialf?lle und technische Probleme auftreten. Der Landwirt muss zwar den Traktor schon bald nicht mehr selbst lenken, aber er wird auch in Zukunft noch oft auf dem Feld und im Stall stehen, um die Empfehlungen seiner Systeme zu ¨¹berpr¨¹fen, sich um spezielle Aufgaben zu k¨¹mmern und das System interaktiv weiter zu verbessern.

Mehr Mut zur Komplexit?t

In der Medizin hat der technische Fortschritt bislang weder die ?rzte noch das Pflegepersonal wegrationalisiert, sondern dazu gef¨¹hrt, dass sich die ?rzte mit komplexeren Krankheiten besch?ftigen k?nnen, w?hrend wir l?nger leben und oft lange gepflegt werden m¨¹ssen. Vielleicht f¨¹hrt die Digitalisierung in der Landwirtschaft ja dazu, dass sich diese besser um ihre wichtigsten Protagonisten, die Pflanzen und Tiere, ?k¨¹mmern? kann. Oder dazu, dass es mehr Mut zu Komplexit?t und Vielfalt gibt. Dass Zeit gewonnen wird, um neuen Herausforderungen zu begegnen. Oder dass Zeit bleibt, um andere Landwirte aus der Ferne zu beraten, die nicht denselben Zugang zu Bildung und Technik haben wie wir.

Zugegeben, so funktioniert die Welt eigentlich nicht. Aber w?re es nicht paradiesisch, wenn sie so funktionieren w¨¹rde? Jetzt haben wir die Chance, Weichen zu stellen und in einem Leitbild festzulegen, was die Digitalisierung der Landwirtschaft bringen soll ¨C statt umgekehrt abzuwarten, was sie aus der Landwirtschaft und damit aus uns machen wird.

Eine leicht gek¨¹rzte Fassung dieses Textes erschien auch als Gastbeitrag in der Print-Ausgabe des Tagesanzeigers (09.04.2016).