Kampfzone der Geschlechter
Wie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern entstehen, ist nicht nur abh?ngig davon, welche Teile des Erbguts geschlechtsspezifisch aktiv werden. Es stellt sich auch die Frage, in welchem Geschlecht solche Ver?nderungen stattfinden. Das zeigen ETH-Forscher anhand eines nahe verwandten Pflanzenpaars.
Seit Darwins Zeiten treibt Evolutionsforschende eine grunds?tzliche Frage um: Wie entstehen unterschiedliche Geschlechter, wenn die Gene von M?nnchen und Weibchen weitgehend dieselben sind?
Zum Beispiel beim Menschen: Ein kleiner, aber offensichtlich wichtiger genetischer Unterschied zwischen Mann und Frau ist, dass der Mann ein Y-Chromosom hat. Sein X-Chromosom ist indessen identisch mit dem der Frau, die zwei Kopien davon tr?gt. Trotzdem unterscheiden sich M?nner und Frauen im K?rperbau oder Verhalten. Ein Grund dafür ist, dass viele gemeinsame Gene geschlechtsspezifisch aktiv sind.
Doch wie ist es dazu gekommen, dass Gene in beiden Geschlechtern unterschiedliche Aktivit?ten zeigen? Diese Entwicklungen lassen sich am Menschen nicht mehr untersuchen, da sie zu weit zurückliegen, wohl aber an Pflanzen: Forscher um ETH-Professor Alex Widmer vom Institut für Integrative Biologie haben deshalb zwei naheverwandte Pflanzenarten verwendet, um die Frage nach der Evolution von Genexpressionsunterschieden zwischen den Geschlechtern zu kl?ren. Die Studie wurde soeben in der Fachzeitschrift ?Nature Plants? ver?ffentlicht.
Vergleich der Genaktivit?tsmuster
Bei der zweih?usigen Weissen Lichtnelke (Silene latifolia) sitzen die Geschlechter auf unterschiedlichen Individuen. Die einen tragen nur weibliche Blüten, die anderen nur m?nnliche. Ihre nahe Verwandte, das Taubenkropf-Leimkraut (Silene vulgaris), weist zwittrige Blüten auf, seltener sind rein weibliche Individuen.
Die Forscher nehmen an, dass die Genexpression im Leimkraut dem ursprünglichen Zustand eines gemeinsamen Vorfahren entspricht. Aus diesem Urahn bildete sich im Laufe der Evolution das Leimkraut mit zwittrigen Blüten und die getrenntgeschlechtliche Lichtnelke. Darüber hinaus entwickelte die Lichtnelke Geschlechtschromosomen wie der Mensch: M?nnliche Pflanzen tragen ein X- und ein Y-Chromosom, weibliche zwei X-Chromosomen.
Die ETH-Forscher haben nun analysiert, welche Gene in den jeweiligen Geschlechtern der Weissen Lichtnelke aktiv sind und auf welchen Chromosomen diese zu finden sind.
Um zu messen, welche Gene aktiv sind, analysierten die Wissenschaftler deren Expression. Diese ist ein Mass für die Intensit?t, mit der ein Gen von der DNA abgelesen wird. Wird ein Gen ?exprimiert?, entstehen Boten-RNS-Moleküle. Deren Gegenwart und Menge lassen Rückschlüsse darauf zu, ob und wie stark ein bestimmtes Gen aktiv ist.
Auch normale Chromosomen unterschiedlich aktiv
Dabei zeigte sich, dass ein grosser Teil der Gene auf den Geschlechtschromosomen von M?nnchen und Weibchen unterschiedlich stark exprimiert werden. Dies weist darauf hin, dass diese Chromosomen wie erwartet eine wichtige Rolle bei der Ausbildung der Geschlechtsunterschiede spielen.
Die Forscher fanden aber auch auf den ?normalen? Chromosomen, den sogenannten Autosomen, viele Gene, die in beiden Geschlechtern vorkommen, jedoch im jeweiligen Geschlecht unterschiedlich exprimiert wurden. Dies legt den Schluss nahe, dass die geschlechtsspezifische Expression von Genen auf den Autosomen ebenfalls zum beobachtbaren Geschlechtsunterschied bei der Weissen Lichtnelke beitr?gt.
Weibliche Genexpression st?rker ver?ndert
Den Forschern stellte sich weiter die Frage, wie sich diese geschlechtsspezifischen Unterschiede im Laufe der Evolution herausgebildet haben. Sie stellten daher die Genaktivit?t des zwittrigen Leimkrauts mit derjenigen von M?nnchen und Weibchen der Lichtnelke gegenüber. Zu ihrer ?berraschung fanden die Wissenschaftler zahlreichere und st?rkere Ver?nderungen der Genexpression in den Weibchen als in den M?nnchen der Lichtnelke im Vergleich mit dem Leimkraut-Zwitter.
Gene, die in den Weibchen st?rker exprimiert werden als in den M?nnchen, wurden im Verlauf der Evolution getrennter Geschlechter spezifisch in den Weibchen hochreguliert. ?Gene, die heute st?rker in den M?nnchen exprimiert werden, sind allerdings meist dadurch entstanden, dass ihre Aktivit?t in den Weibchen gedrosselt wurde?, erkl?rt Widmer.
Geschlechtertrennung als Vorteil
Warum die meisten Expressionsver?nderungen in den Weibchen stattgefunden haben, erkl?ren die Forscher wie folgt: ?Die Weibchen profitierten von der Geschlechtertrennung wahrscheinlich mehr als die M?nnchen.? Dies zeige auch der Vergleich der Lichtnelke mit dem Leimkraut.
Das zwittrige Leimkraut müsse n?mlich einen Kompromiss eingehen zwischen m?nnlicher und weiblicher Funktion. Der m?nnliche Teil der Blüte muss m?glichst viel und guten Pollen produzieren, der weibliche Teil die Samen. Für die weibliche Funktion k?nnte diese Aufgabenteilung nachteilig sein, da ihr weniger Ressourcen zur Verfügung stehen. ?Zwittrige Blüten sind die Kampfzone der Geschlechter?, sagt Widmer. In getrenntgeschlechtlichen Individuen hingegen kann das jeweilige Geschlecht s?mtliche Ressourcen für seine entsprechende Aufgabe einsetzen.
Getrennte Geschlechter im Pflanzenreich selten
Unterschiedliche Geschlechter sind im Tierreich weit verbreitet, im Pflanzenreich hingegen überwiegen zwittrige Arten – trotz der Vorteile von getrennten Geschlechtern. Weshalb dem so ist, ist noch weitgehend unbekannt. Widmer wird deshalb eine neue Studie beginnen, mit der er die evolutiven Vorteile von getrennten Geschlechtern, aber auch von Zwittern, untersuchen will. Als Modellsystem bieten sich Pflanzenarten an, von denen es sowohl getrenntgeschlechtliche als auch zwittrige Populationen gibt.
Mit ihrer Forschung stützen Widmer und seine Gruppe eine Idee, die bereits Charles Darwin hatte. Unterschiedliche Geschlechter sind von Vorteil, da jedes Geschlecht die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen unabh?ngig vom anderen Geschlecht verwenden kann.
Literaturhinweis
Zemp N, Tavares R, Muyle A, Charlesworth D, Marais GAB, Widmer A. Evolution of sex-biased gene expression in a dioecious plant. Nature Plants 2, Article number: 16168 (2016). doi:externe Seite 10.1038/nplants.2016.168