Orientierungslos

Eine kulturelle Krise

Trotzdem passiert wenig. Ein wichtiger Grund ist meiner Meinung nach, dass wir Umweltprobleme zu oft als Probleme der Umwelt statt als Probleme des Menschen verstehen. Dabei geht es vorab um den Menschen.

Wir sind orientierungslos geworden. Wer ?kologisches Handeln fordert, ist schnell ein Moralist ohne Verst?ndnis f¨¹r die ?konomischen Zusammenh?nge. Wer vom Schutz der Natur spricht, macht sich l?cherlich in einer Zeit, in der ?kosysteme scheinbar unaufhaltbar degradieren. Derweil wetteifern Veganer, ?kotouristen, technologische Zukunftsoptimisten, Freizeitbuddhisten und Hundeversteher um die einzig ?wahre? Beziehung zur Natur.

Mitten drin

Man k?nnte argumentieren, dass es an den Sozial- und Geisteswissenschaften liegt, diese kulturelle Krise zu meistern. Meine Erfahrung ist jedoch, dass gerade die Naturwissenschaften mitten drin stecken.

Das Buch, welches mein Selbstverst?ndnis als Wissenschaftler im letzten Jahr am St?rksten pr?gte, ist die vierb?ndige ?Neapolitanische Saga? von Elena Ferrante. Die Erz?hlerin im Buch, eine Schriftstellerin und Intellektuelle, wird in ein sozial benachteiligtes und von M?nnermacht dominiertes Viertel von Neapel geboren. Sie befasst sich beruflich ein Leben lang mit sozialer Gerechtigkeit und Feminismus und muss ihre Rolle im spannungsgeladenen Verh?ltnis zwischen Privatleben und wissenschaftlicher Arbeit immer wieder neu verhandeln.

Ich habe realisiert, dass auch ich als Naturwissenschaftler nicht mehr darauf hoffen kann, ich k?nnte mich aus der sicheren Distanz des Elfenbeinturms auf die objektive wissenschaftliche Bearbeitung von Umweltthemen beschr?nken, ohne meine eigene Rolle zu reflektieren.

Meine Forschung ist nicht wertfrei

Alle wissenschaftlichen Fragen, welche mich aktuell als ?kologe besch?ftigen, sind stark von kulturell bestimmten Naturbildern und pers?nlichen Werthaltungen gepr?gt: Sind ?fremde? Pflanzen aus anderen L?ndern, sogenannte Neophyten, ein Problem? Macht es Sinn, ?Invasionen? von solchen ?nicht einheimischen? Arten energisch mit Glyphosat zu bek?mpfen? Sollte es daf¨¹r Sonderbewilligungen entlang von Fl¨¹ssen, in W?ldern und in Naturschutzgebieten geben ¨C ¨¹berall dort wo Herbizide streng verboten sind?

Sollen wir priorit?r seltene Arten retten oder h?ufige Arten f?rdern (siehe Beitrag)? K?nnen wir vom Menschen gest?rte ?kosysteme ?renaturieren?, oder m¨¹ssen wir neue ?kosysteme ?designen? (siehe Beitrag)? Geh?rt die Natur aufs Land statt in die Stadt? Oder sind nur St?dte, in welchen sich Natur und Technologien vermischen, zukunftsf?hig?

Umweltgeisteswissenschaften als Chance

Im Kern ist die Umweltkrise eine gesellschaftliche Krise der Orientierungslosigkeit. Zum Gl¨¹ck wurde dies inzwischen erkannt. Das weltweit wachsende Forschungsfeld der ?Umweltgeisteswissenschaften? bringt Naturwissenschaftler mit den Geisteswissenschaften und der Kunst zusammen, um einen andersartigen Zugang zu Umweltproblemen zu entwickeln (siehe Kasten).

F¨¹r die Umweltgeisteswissenschaften sind die Geschichte einer Gesellschaft, ihre Sprache, ihre kulturell gewachsenen Denkmuster und Konzepte wie Gerechtigkeit oder Verantwortung die Schl¨¹sselelemente, aufgrund derer Umweltprobleme neu betrachtet und fassbar werden k?nnen.

Diese Sichtweise erm?glicht auch mir als Naturwissenschaftler bessere Arbeit: Egal, ob ich mich mit Neophyten, Naturschutz oder Nachhaltigkeit besch?ftige ¨C ohne die st?ndige Auseinandersetzung mit der Kultur und Geschichte dieser Themen, mit der daf¨¹r verwendeten Sprache oder den Reaktionen von K¨¹nstlerinnen und Laien auf meine wissenschaftlichen Themen betreibe ich unreflektierte Forschung.

F¨¹r mich ist die aktuelle Explosion von Ideen und Projekten in den Umweltgeisteswissenschaften eines der spannendsten Laboratorien und eine grosse Hoffnung f¨¹r eine ?kologische Zukunft.