Gletscher in Echtzeit beobachten

Heisse Sommer lassen Gletscher schmelzen. Das ver?ndert nicht nur das Landschaftsbild und damit die Karten der Schweiz, sondern betrifft auch sensible Bereiche der Gesellschaft. Ein neues, dynamisches Gletscherinventar macht den Einfluss des Klimawandels und die Ver?nderung der Landschaft sichtbar.

Vergr?sserte Ansicht: Gletscherbeobachtung im Bann von mehreren Walliser Viertausendern. (Bild: GLAMOS)
Gletscherbeobachtung im Bann von mehreren Walliser Viertausendern. (Bild: GLAMOS)

Es war im Jahr 2001, dass die Schweizer Gletscher zum letzten Mal etwas an Masse zulegen konnten. Seither sterben die 1500 Gletscher, nicht nur in der Schweiz, einen langsamen aber unaufhaltsamen Tod. Doch wie schnell sie wirklich schwinden und wie sich das auf Landschaft, Mensch und Tier auswirkt, war bisher nur partiell nachvollziehbar. Dank dem Projekt Glacier Monitoring Schweiz (GLAMOS) wird sich das bald ?ndern. Das Schweizerische Gletschermessnetz erstellt im Auftrag von verschiedenen Bundes?mtern ein umfassendes Inventar der heimischen Gletscher – in einem bisher nicht dagewesenen Detailierungsgrad.

Doch wozu braucht eine aussterbende ?Spezies? ein derart detailliertes Inventar? Für den GLAMOS-Geoinformatiker und ETH-Mitarbeiter Yvo Weidmann ist das keine Frage: ?Die Gletscherschmelze beeinflusst die Abflussmenge in unseren Flüssen und ist damit relevant für Naturgefahren und die Katastrophenpr?vention, die Energieversorgung, den Verkehr, den Tourismus, Baustellen und nicht zuletzt für die Gletscherforschung.?

Heute werden im Rahmen von GLAMOS rund 100 Gletscher überwacht, wobei insbesondere deren Ver?nderung in Bezug auf Eisdicke und L?nge gemessen werden. Künftig wird die Ver?nderung der Ausdehnung von rund 1500 Gletscher erfasst. Dadurch k?nnen die Forschenden in Zukunft die Ver?nderung ihrer Ausdehnung haargenau verfolgen.

Von der Karte zum 3D-Landschaftsmodell

M?glich gemacht hat das neue Inventar ein Paradigmenwechsel beim Bundesamt für Landestopografie: Mit grossem Aufwand wandelt die Swisstopo seit einigen Jahren die bisherigen Karten in ein digitales, dreidimensionales Landschaftsmodell um. Die bisherigen Karten zeigen – vereinfacht gesagt – was wo ist. Für die Gletscherforschung war diese einfache Aufsicht kein brauchbares Modell.

Gletscher k?nnen von Schutt bedeckt sein. Das ist für die Glaziologie relevant. ?Es ist m?glich, dass ein grosser Teil der Gletscherzunge mit Schutt bedeckt ist und der sichtbare Eisk?rper nur einen Teil des tats?chlichen Gletschers darstellt?, pr?zisiert Weidmann. Eine rein kartografische Abbildung der sichtbaren Eisfl?che greife darum im wahrsten Sinne des Wortes zu kurz.

Die farbigen Linien zeigen an, wo der Rand des Aletschgletschers einst lag (rote Linie 1850, grün=1973, blau=2010). (Grafik: Swisstopo/GLAMOS)
Die farbigen Linien zeigen an, wo der Rand des Aletschgletschers einst lag (rote Linie 1850, grün=1973, blau=2010). (Grafik: Swisstopo/GLAMOS)

Aus Eisfeldern werden Gletscher

Im topografischen Landschaftsmodell entf?llt diese Limitierung. Die digitale Darstellung erlaubt es, verschiedene Schichten entlang topografischer Regeln zu kombinieren. Wald und Gew?sser k?nnen sich so zwar berühren, nicht aber überlagern. Ger?ll kann auf Eis liegen. Und flüssiges Wasser – etwa im Fall von Gletscherseen – kann auf Eis vorkommen. Am Computer k?nnen Schichten entfernt oder hinzugefügt werden, wodurch ein umfassendes Landschaftsbild für alle m?glichen Bedürfnisse entsteht.

Erstmals erfasst Swisstopo Gletscher im neuen Landschaftsmodell zus?tzlich nach glaziologischen Regeln. So kann es beispielsweise vorkommen, dass sich auf einem Bergkamm zwei Gletscher berühren, die sich ansonsten auf gegenüberliegenden Bergflanken befinden und unterschiedliche Fliessrichtungen haben. Aus kartografischer Sicht handelt es sich dabei um eine einzige grosse Eisfl?che. Aus Sicht des Glaziologen sind es jedoch zwei ?Individuen?, die abgesehen von der Berührung am Bergkamm wenig gemeinsam haben und einander nicht beeinflussen.

?In Zukunft wird die Geschichte eines Gletschers über eine eindeutige Nummer nachverfolgbar?, erkl?rt Yvo Weidmann. ?Wenn dann ein Gletscher mit zwei Einzugsgebieten in zwei verschiedenen T?lern soweit abschmilzt, dass daraus zwei eigenst?ndige Gletscher werden, dann erh?lt einer davon eine neue Nummer.? Diese Inventarnummern helfen nicht nur dabei, die Gletscher zu identifizieren, sondern auch, ihren Lebenslauf zu dokumentieren.

Ein Modell mit nie gekannter Pr?zision

Verknüpfen nun die Forscher das Inventar mit glaziologischen Berechnungsmodellen, k?nnen sie aufzeigen, wie viel Wasser welcher Gletscher wann liefert.

Je mehr Daten in das Modell einfliessen, desto pr?ziser wird die Grundlage für Prognosen. GLAMOS erreicht damit eine nie dagewesene Pr?zision. Die Flugzeuge von Swisstopo erfassen jeden Quadratmeter der Schweiz im Abstand von vier bis sechs Jahren. Die dabei gemachten 3D-Bilder erlauben es, H?henunterschiede auf einem Raster von zwei mal zwei Metern mit einer Genauigkeit von rund 50 Zentimetern festzuhalten. Sinkt eine Schotterfl?che vor einer Gletscherzunge zwischen zwei Messungen deutlich ab, so befindet sich darunter wahrscheinlich Eis. Mit jeder weiteren Messung wird das wahre Ausmass unserer Gletscher besser dokumentiert.

Ein Datenschatz wird gehoben

Das erste vollst?ndige Gletscherinventar stammt aus dem Jahr 1973. Sp?ter wurde ein zweites für das Jahr 1850 aufgrund von Sch?tzungen, Karten und Mor?nen rekonstruiert. Weitere Bestandsaufnahmen folgten um 2000 und 2010. All diese Inventare waren wichtig für die Forschung, wurden aber nach eigenen Regeln und unterschiedlichen Methoden erfasst, was sie schwierig vergleichbar macht.

Ab 2019 verfügt die Schweiz nun erstmals über ein Gletscherinventar, das dynamisch weiterentwickelt wird und alle vier bis sechs Jahre komplett erneuert vorliegt. ?brigens: Die Kosten für das neue Gletscherinventar sind überschaubar, weil GLAMOS auf die bestehenden Datensch?tze zugreift, sie aufbereitet, verknüpft und für ein breites Publikum nutzbar macht.

Vergr?sserte Ansicht: Augenfälliger Gletscherschwund im Engadin, August 2018: Die Verbindung zwischen Morteratsch- und Pers-Gletscher ist abgeschmolzen. (Bild: Peter Rüegg)
Augenf?lliger Gletscherschwund im Engadin, August 2018: Die Verbindung zwischen Morteratsch- und Pers-Gletscher ist abgeschmolzen. (Bild: Peter Rüegg)

Was ist GLAMOS?

Das Schweizerische Gletschermessnetz dokumentiert langfristige Gletscherver?nderungen in den Schweizer Alpen. Es wird gemeinsam von der Expertenkommission für Kryosph?renmessnetze (EKK) mit der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH Zürich sowie den Universit?ten Fribourg und Zürich betrieben. Die Aufnahmen sind durch die finanzielle Unterstützung vom Bundesamt für Umwelt (BAFU), Meteo Schweiz im Rahmen von GCOS und der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) gesichert und werden massgeblich durch das Bundesamt für Landestopographie unterstützt.

Sommerserie

Im Rahmen einer Serie pr?sentiert ETH-News w?hrend der Ferienzeit regelm?ssig Beitr?ge zu Forschung und Innovation, welche etwas mit der sch?nsten Zeit des Jahres zu tun haben.

Bisher erschienen:

11.07. Schwitzen für ein kühleres Singapur

18.07. Wissenschaftler für einen Tag

30.07. Kochen, auch wenn es windet

08.08. Den perfekten Schatten programmiert

17.08. Vom Kiefernzapfen zum adaptiven Schattenspender

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