Die Problemlöserin

Schon als Kleinkind hat Julia Wysling vom Kinderwagen aus Strassenlaternen gez?hlt. Das erz?hlt zumindest ihr Vater gerne, ein Journalist, der das Zahlenflair seiner Tochter bis heute nicht ganz verstehen kann. Doch Wysling konnte schon immer besser mit Zahlen als mit Buchstaben. ?Ich ging nach der sechsten statt nach der achten Klasse ins Gymi, so musste ich keine Franz?sischpr¨¹fung ablegen.? Es ist das Logische, das Rationale, das Julia Wysling fasziniert. ?Es gibt da eher richtig und falsch und weniger Diskussionen.?

Entsprechend entschied sich die heute 28-J?hrige vor ¨¹ber zehn Jahren f¨¹r das mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium. Ein Entscheid, den sie ganz bewusst traf. ?Ich hatte zuvor einen Lehrer, der offenbar davon ¨¹berzeugt war, dass Frauen nicht in die Naturwissenschaften geh?rten, und mir darum stets schlechtere Noten gab.? Daraufhin habe sie der Ehrgeiz erst recht gepackt: ?Ich wollte ihm das Gegenteil beweisen.?

Nach dem Gymnasium w?hlte Julia Wysling schliesslich ein Mathematikstudium an der ETH Z¨¹rich. Eigentlich wollte sie die Zahlen mit etwas Sozialem verbinden. Die Studienberatung empfahl ihr Psychologie. ?Das fand ich dann doch etwas weit hergeholt.? Also doch einfach Mathematik. Und warum an der ETH? ?Das war ¨C untypisch f¨¹r mich ¨C zun?chst ein irrationaler Entscheid.? Wyslings Mutter hatte an der ETH Pharmazie studiert und schw?rmte ihrer Tochter oft von der Zeit an der ETH vor. Zwar spielte Julia Wysling auch mit dem Gedanken, im Ausland zu studieren. Als sie aber die Platzierung der ETH in den internationalen Hochschulrankings sah, war der Fall f¨¹r sie klar. ?Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah ist??

Keine Langeweile

Bereut hat die Z¨¹rcherin ihre Wahl nie ¨C auch wenn sie sich heute vielleicht anders entscheiden w¨¹rde. ?Ich glaube, Bauinge?nieurwesen oder Informatik h?tten auch gut gepasst.? Doch sie f¨¹hlte sich bei den Mathematikern gut aufgehoben. Obwohl die M?nner zahlenm?ssig dominierten und Wysling in kleineren Vorlesungen teilweise die einzige Frau war, f¨¹hlte sie sich nie unwohl. ?Die Mathematiker sind sehr sozial.?

Julia Wysling konnte in diesem Umfeld auch ihren Drang nach sozialem Engagement ausleben. So war sie bereits w?hrend ihres Bachelorstudiums ehrenamtlich im Vorstand des Vereins der Mathematik- und Physikstudierenden in der Eventorganisation t?tig. Ein Jahr sp?ter pr?sidierte sie den Verein und organisierte Events f¨¹r den VSETH, den Studierendenverein der ETH ¨C alles neben dem Studium und ihrem Nebenjob als Assistentin in der Mathematikbibliothek der ETH. ?Das Studium hat manchmal schon etwas gelitten.? Doch es habe eben auch viel Flexibilit?t und Freiheiten zugelassen. Und: ?Man muss einfach jeden Tag aufs Neue in Angriff nehmen.? Als Ausgleich zum studentischen, beruflichen und ehrenamtlichen Alltag trieb Wysling viel Sport. ?Ich habe w?hrend des Studiums den Triathlon f¨¹r mich entdeckt.? Dieser sei jedoch immer nur ein Hob?by gewesen. ?Das einzig Kompetitive daran war, mich selbst zu verbessern.?

2013 kamen Engagement und Studium aber endg¨¹ltig nicht mehr aneinander vorbei: Julia Wysling wurde zur Pr?sidentin des VSETH gew?hlt. Daf¨¹r legte sie im Bachelorstudium eine einj?hrige Pause ein. Ein Jahr, sagt Wysling, in dem sie unglaublich viel ?lernen konnte: im zwischenmenschlichen Umgang, in der Kommunikation, der Koor?dination, dem Management und beim Problem?l?sen. Als Repr?sentantin von ¨¹ber 15?000?Studierenden unterschiedlicher Herkunft in diversen Bereichen war dies keine leichte Aufgabe. Julia Wysling meisterte sie mit rationalem Denken und Argumentieren. Heute sagt die Mathematikerin: ?Ich glaube, es ist besser, Probleme zu haben, die man ?l?sen kann, als ein langweiliges Leben ohne Herausforderungen zu f¨¹hren.?

Politische Luft schnuppern

W?hrend ihrer Zeit als VSETH-Pr?sidentin, einem sehr politischen Amt, konnte sie auch vom Gymnasium profitieren. ?Ich war dort in einer politisch sehr interessierten Klasse. Man musste zwangsl?ufig ebenfalls ein Inte?resse entwickeln, damit man mitreden konnte.? Ihr politisches Flair ging so weit, dass sie sp?ter mit der SP f¨¹r den Z¨¹rcher Gemeinderat kandidierte. Dass sie nicht gew?hlt wurde, st?rt Julia Wysling nicht. ?Ich wollte einfach mal schauen, wie die Politik wirklich funktioniert.? Und? ?Oft wird ¨¹berhaupt nicht rational argumentiert. Das fand ich etwas schockierend.?

Nach dem Zwischenjahr an der Spitze des Studierendenvereins konzentrierte sich Julia Wysling wieder auf ihr Studium. Als verloren sieht die ETH-Alumna das Jahr keinesfalls. ?Ich war um unz?hlige Erfahrungen reicher, konnte viel f¨¹rs Leben lernen.? Dies konnte sie auch w?hrend des Femtec-Careerbuildingprogramms, an dem sie w?hrend dreier Semester teilnahm. Das F?rderprogramm f¨¹r Frauen bereitet Studentinnen gezielt auf die berufliche Praxis und F¨¹hrungsaufgaben vor.

Nach Abschluss des Masterstudiums in der Forschung zu bleiben, kam f¨¹r Julia Wysling nicht in Frage. ?Daf¨¹r hatte ich einfach zu wenig Interesse an der Mathematik?, gibt sie zu. Sie wollte etwas tun, das die Menschen weiterbringt, eine soziale Komponente hat. Per Zufall stiess die Absolventin am schwarzen Brett bei der Polymensa auf eine Ausschreibung der Analysis Simulation Engineering (ASE) AG in Z¨¹rich. Eine Ausschreibung, hinter welcher der wohl perfekte Job f¨¹r Julia Wysling steckte.

Mehrwert f¨¹r die Gesellschaft

Seit zwei Jahren ist die Mathematikerin nun Projektmanagerin in der Modellierung und Simulation der ASE. Das heisst konkret: Wysling simuliert am Computer Personenfl¨¹sse, zum Beispiel in Einkaufszentren, Stadien oder Bahnh?fen. ?Man kann sich das ein bisschen vorstellen wie das Computerspiel ?Sims?. Ich programmiere eine Umgebung, variiere diese und werte schliesslich Daten aus.? Zurzeit befasst sie sich vor allem mit Bahnh?fen. Da viele Schweizer Bahnh?fe allm?hlich an ihre Kapazit?tsgrenzen stossen, m¨¹ssen neue L?sungen her. Bahnunternehmen, Polizei oder Beh?rden wenden sich dann an Firmen wie die ASE. Und Julia Wysling untersucht: mit Sitzbank oder ohne, ein Aufgang oder zwei, Perron verbreitern oder verl?ngern?

Die Erkenntnisse und Empfehlungen, die die Mathematikerin aus den Zahlen und Daten gewinnt, gibt sie in Berichten an die Auftraggeber weiter. Immer k?nnen diese den Empfehlungen nicht nachkommen. ?Es ist stets ein Abw?gen zwischen verschiedenen Anspr¨¹chen. Ich versuche auf jeden Fall, die Umgebung in Bezug auf Sicherheit, Funktionalit?t und Komfort zu optimieren.? Julia Wysling ist gl¨¹cklich mit diesem Job. ?Ich kann Mathematik im realen Leben anwenden und gleichzeitig einen Mehrwert f¨¹r die Gesellschaft schaffen.?

Auch wenn es seit dem Studienabschluss ruhiger wurde in Wyslings Leben, ist sie immer noch sehr engagiert. Sie organisiert Events f¨¹r die Alumni Vereinigung der ETH Z¨¹rich und trainiert f¨¹r Halbmarathons und Triathlons. Derzeit hat Julia Wysling aber noch ganz andere Pl?ne: Zusammen mit ihrem Freund wandert sie vor¨¹bergehend nach Paris aus. W?hrend er in der franz?sischen Hauptstadt eine zweij?hrige Postdoc-Stelle antritt, kann sie aus der Ferne f¨¹r die ASE weiterarbeiten. Wie es nach diesen zwei Jahren weitergeht, weiss Wysling noch nicht. Irgendwann m?chte sie auf jeden Fall nach Z¨¹rich zur¨¹ckkehren. Ihr Ziel bis dahin: Franz?sisch zu sprechen.