Der Stadtschreiber

Auf den ersten Blick ist Marc Ang¨¦lil eine unauff?llige Person. Puristisch wirkt er mit seiner schlanken Postur, meist schwarz gekleidet, mit unauff?lliger Junghans-Uhr. Manchmal ziert ein Tintenklecks seinen Unterarm ¨C Spuren seiner schwarzen F¨¹llfeder, die ihn stets begleitet und mit welcher er w?hrend Meetings dem Gegen¨¹ber gerne seine Gedanken in einfachen Skizzen erl?utert. Auff?llig hingegen ist der unruhige, strahlende und einnehmende Blick, wenn Ang¨¦lil beginnt ¨¹ber seine Arbeit als ETH-Professor, als weitgereister Forscher und ausgezeichneter Architekt zu erz?hlen. Seine Neugierde auf die Welt scheint auch mit 65 ungebrochen. Schon als Zehnj?hriger verbrachte er Tage mit Lesen in der Bibliothek seines Grossvaters in Alexandria, wo er aufgewachsen ist. Bis heute ist eine Stunde seiner meist langen Arbeitstage zum Lesen reserviert. Noch mehr Zeit fliesst ins Schreiben: Seit Abschluss des Architekturstudiums an der ETH Z¨¹rich vor 40 Jahren hat er hunderte von Essays und mehrere B¨¹cher zu Themen rund um Architektur, Urbanisierung und St?dteplanung verfasst. Getrieben vom Drang, Urbanisierungsdynamiken vor Ort zu ergr¨¹nden und sie schreibend zu verstehen, hat er sich an Kairo, Rio de Janeiro, Addis Abeba, Shanghai, Mumbai, Paris und Z¨¹rich abgearbeitet.

?The American?

Wir treffen uns zum Gespr?ch in der N?he des Z¨¹rcher Letzigrund im hellen, offenen B¨¹ro von ?agps?, dem Architekturb¨¹ro, das Ang¨¦lil 1982 mit Manuel Scholl und seiner Partnerin, der kalifornischen Architektin Sarah Graham, aufgebaut hat. Sie motivierte ihn damals auch zum Umzug in die USA, nachdem sie sich an einigen Schweizer Wintern abgek?mpft hatte. Nach einem Lehrauftrag an der Harvard University in der N?he von Boston zog Ang¨¦lil nach Los Angeles, wo er sieben Jahre als Assistenzprofessor an der University of Southern California lehrte. ?Zum Thema Urbanisierung kam ich ¨¹ber die Erfahrung von Los Angeles?, res¨¹miert er. Die Faszination f¨¹r die Grossstadt, deren Heterogenit?t und Widerspr¨¹che, gekoppelt mit den postmodernen Diskursen der 80er-Jahre an der Universit?t, ver?nderten seinen Bezug zur Architektur f¨¹r immer. 1994 kehrte er als Assistenzprofessor an seine Alma Matter zur¨¹ck. ?Nirgends sonst findet man als Professor vergleichbare Rahmenbedingungen?, begr¨¹ndet er den Entscheid. Doch der Start in Z¨¹rich war hart: Die Kollegen am Departement nannten ihn schlicht ?the american?. Das hatte nichts mit Ang¨¦lils Akzent zu tun, sondern mit seiner Perspektive auf Architektur. Er begann sich f¨¹r Agglomerationen, Peripherie, st?dtische Infrastrukturen, sozio-r?umliche Beziehungen und globale Urbanisierungsprozesse zu interessieren. Themen, die damals noch nicht zu den Kernkompetenzen von Architektur im engeren Sinne geh?rten.

Dieser erweiterte Blick auf Stadt und Architektur sowie die Frage nach den sozialen, politischen und ?konomischen Treibern der globalen Urbanisierung sollten fortan Ang¨¦lils Forschung und Lehre pr?gen; die ?politische ?konomie? des Bauens wurde zu seinem theoretischen Leitkonzept. ?Welche Kr?fte treiben heute das Bauen tats?chlich an??, fragt Ang¨¦lil rhetorisch. ?Es ist das Kapital! Die ?konomie wurde zum A und O in der Architektur.? Daf¨¹r sei sie in der Lehre bislang unterrepr?sentiert. Wirtschaftliche Entwicklungen, wie die globale Finanzkrise ab 2007, ver?ndern heute das Leben in urbanen Zentren radikal ¨C mit einer Geschwindigkeit und Brutalit?t, mit welcher die klassische St?dteplanung oft nicht mehr mithalten kann. Damit werden auch neue Fragen bez¨¹glich der Beziehung von formellem und informellem Bauen aufgeworfen, besonders im globalen S¨¹den. Ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch Ang¨¦lils Schaffen zieht.

Unsterbliche Pl?ne

Mit der Entwicklung eines ?MAS in Urban Design? ¨¹bertrug Ang¨¦lil die neuen Herausforderungen f¨¹r Architektinnen und St?dteplaner in die Lehre. Entstanden ist ein transdisziplin?rer Studiengang mit globalem Anspruch. In dessen Zentrum steht ein Studio, in dem sich die Studierenden mit eigener Feldforschung vor Ort einem bestimmten urbanen Kontext annehmen. Zum Beispiel dem Sozialbau in Brasilien. Dort hat eine Gruppe nach M?glichkeiten der Inklusion von informellen Baut?tigkeiten in offizielle Regierungsprogramme gesucht. Basierend auf einer vertieften Analyse, unterst¨¹tzte sie die Zusammenarbeit zwischen Aktivistinnen f¨¹r sozialen Wohnungsbau, Wohnkooperativen und Beh?rden. Schliesslich wurde die Professur von der zust?ndigen Beh?rde mit dem Bau von 500 Wohneinheiten nach dem eigens daf¨¹r entwickelten Baukasten f¨¹r inklusiven und nachhaltigen Sozialbau beauftragt. Doch am Ende scheiterte das Projekt an der rauhen brasilianischen Realit?t: Das f¨¹r die Planungen zugesprochen Land wurde Teil eines Korruptionsskandals. Trotz Entt?uschung ist Ang¨¦lil ¨¹berzeugt: ?Unsere Pl?ne und Empfehlungen sind publiziert, sie leben weiter.?

Gleich mehrere Studios besch?ftigten sich mit Ang¨¦lils Herkunftsland ?gypten, denn er ist zugleich fasziniert und schockiert von den dortigen Umw?lzungen. ?Heute erscheinen popul?re Viertel in Kairo, in welchen mehr als zehn Millionen Menschen leben, auf keiner offiziellen Karte mehr. F¨¹r den Staat existieren diese Menschen nicht.? Anderorts entlang des Nils frisst sich die Stadt in Agrarland und gef?hrdet dadurch die Nahrungsmittelversorgung der Bev?lkerung. Gleichzeitig baut die Regierung unter El-Sisi mithilfe von internationalen Investoren und chinesischen Entwicklern in der W¨¹ste komplett neue St?dte mit Luxushotels und Shoppingmalls. Dass Architektur und St?dteplanung immer auch politisch sind, zeigte sich im Rahmen des Buchs ?Housing Cairo?, das 2016 erschienen ist. Als Ang¨¦lil mit einigen Exemplaren im Gep?ck in Kairo einreisen wollte, wurde er von den Beh?rden angehalten. Das Buch wurde konfisziert mit der Begr¨¹ndung, es enthalte Pl?ne zu informellen Siedlungen, die es offiziell gar nicht gebe. Mittlerweile ist das Buch vergriffen. ?Aufgrund des Verbots verbreitete es sich schlagartig?, erinnert sich Ang¨¦lil und lacht schelmisch.

In seinem neusten, fast 1000-seitigen Buch ?Mirroring Effects. Tales of Territory?¹, hat er zehn grosse Geschichten zu aktuellen Stadtentwicklungen versammelt ¨C auch aus ?gypten und Brasilien. Zehn Jahre hat er mit seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Cary Siress an diesem Opus magnum gearbeitet. ?Viele der Erz?hlungen lesen sich wie Horrorm?rchen dar¨¹ber, wie der Mensch sein Territorium umgestaltet und die Erde neu erschafft?, sagt Ang¨¦lil. ?Nur dass es eben keine M?rchen sind.? 

Raumerfahrung mit Tango

Ehemalige Studierende und Assistierende werden Marc Ang¨¦lil nicht nur wegen seiner scharfen Analysen, fundierten Kritik und philosophischen Exkurse in Erinnerung behalten, sondern auch aufgrund seiner experimentellen und spielerischen Lehrformen. 13 Jahre war er f¨¹r die Entwurfsklasse im ersten Studienjahr verantwortlich. Rund 300 Studierende gingen Jahr f¨¹r Jahr durch Ang¨¦lils Schule. Seine ?Tango-?bung? war ein fester Bestandteil davon: Am Morgen hielt der Professor eine Vorlesung zur Relation zwischen Figur und Grund. Am Nachmittag wurden Tangot?nzerinnen und -t?nzer in den Zeichnungssaal geladen. Nun mussten die Studierenden zuerst beobachtend, dann tanzend den Raum zwischen den T?nzerinnen und ihrer Umgebung auf Papier bringen. Abschliessend sollten sie die Raumerfahrung in einem Gipsmodell darstellen. ?Wir wollten die Schulabg?nger zu Beginn des Studiums f¨¹r das Sinnliche und Haptische der Architektur begeistern.? Mittlerweile wird die ?Tango-?bung? auch in der Architekturlehre in S¨¹dkorea, ?thiopien, Mexiko und China eingesetzt.  

Stolz ist Ang¨¦lil auch auf die erste Ausgabe von ?ETH Singapore month?, einem neuen Lehrformat, das er gemeinsam mit Rektorin Sarah Springman und Kollege Aurel von Richthofen entwickelt hat. Dies im Rahmen des ?Future Cities Laboratory? in Singapur, zu dessen Gr¨¹ndungsv?tern er geh?rt. 21 ETH-Studierende aus 17 verschiedenen Disziplinen suchten gemeinsam mit Studierenden aus sieben weiteren Hochschulen w?hrend eines Monats nach L?sungsans?tzen f¨¹r Herausforderungen von urbanen Gesellschaften ¨C transdisziplin?r und mit Methoden des ?Design Thinking?. ?Die Studierenden sollen eine eigene Haltung entwickeln, kritisch ¨¹ber aktuelle Entwicklungen reflektieren und auch politisch aktiv werden?, fasst Ang¨¦lil die Ziele zusammen. ?In Zeiten des aufstrebenden Populismus ist nichts wichtiger als das.?

Mehr Zeit in den USA

Was die Zeit nach seiner Emeritierung angeht, so freut sich Ang¨¦lil auf neue Freiheiten, um der alten Leidenschaft zu fr?nen. Aus dem eigenen Architekturb¨¹ro ?agps?, das heute 20 Mitarbeitende besch?ftigt, zieht er sich weitgehend raus. ?Es wird Zeit, Platz f¨¹r eine neue Generation zu machen.? Er will wieder mehr Zeit in Kalifornien bei seiner Partnerin verbringen. Eine soeben umgebaute Ranch auf dem Land l?dt zum Entspannen ein. Meist werde ihm jedoch bereits nach wenigen Tagen langweilig, sagt er. Bereits lockt auch ein Angebot f¨¹r einen Dekanposten an einer amerikanischen Universit?t. Und dann ist da noch ein gross angelegtes Forschungsprojekt zu Chinas Baut?tigkeiten in Afrika, f¨¹r das er im Rahmen des ?Future Cities Laboratory? einen Finanzierungsantrag gestellt hat. Man darf also davon ausgehen, dass zu den unz?hligen Publikationen aus den vergangenen 40 Jahren, bald noch einige hinzukommen werden.