Neuronales Netzwerk als Rettungsanker

Die Quantenmechanik ist zwar eine gut etablierte Theorie, doch sie führt auf makroskopischer Ebene zu unl?sbaren Widersprüchen. ETH-Physiker schlagen nun vor, das Problem mit Hilfe von neuronalen Netzwerken zu l?sen.

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Zu welchem astronomischen Weltbild gelangt ein neuronales Netzwerk, wenn man ihm nur die Beobachtungsdaten von der Erde aus zur Verfügung stellt? (Visualisierung: Tony Metger / ETH Zürich)

Not macht erfinderisch. ?Alle unsere Versuche, die Widersprüche der Quantenmechanik aufzul?sen, sind bisher gescheitert?, erkl?rt Renato Renner. ?Nun versuchen wir halt einen anderen Weg.? Und dieser neue Weg hat es in sich, auch wenn ihn der Professor für Theoretische Physik im Gespr?ch einen ?Akt der Verzweiflung? nennt: Zusammen mit seinem Doktoranden Raban Iten und seinem Masterstudent Tony Metger sowie weiteren Mitgliedern seiner Gruppe zeigt Renner in einer neuen Publikation, dass man mit Hilfe von künstlicher Intelligenz zu tieferen Einsichten in physikalische Zusammenh?nge kommen kann.

Blackbox als Ausweg?

Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Quantenmechanik – auch wenn sie experimentell immer wieder best?tigt wurde – zu Widersprüchen führt. ?Als wir vor einem Jahr darauf hinwiesen, dass es bei der Quantenmechanik ein fundamentales Problem geben muss, weil man die Quantenmechanik nicht auf die Nutzer der Quantenmechanik anwenden kann, l?ste das viele Reaktionen aus. Wir erhielten in der Folge viele Rückmeldungen. Doch bisher konnte kein L?sungsvorschlag dieses grunds?tzliche Dilemma aufl?sen?, stellt Renner fest.

Dass künstliche Intelligenz weiterhelfen k?nnte, ist auf den ersten Blick eine überraschende Idee. Denn neuronale Netzwerke, die Schlüsselelemente der künstlichen Intelligenz, funktionierten in der Regel wie eine Blackbox. Man kann ihnen zwar beibringen, Gesichter auf Bildern zu erkennen. Doch wie genau das Netzwerk diese Aufgabe l?st, weiss man nicht. Wie soll man als Physiker davon etwas Neues lernen?

Kondensierte Information

Die Antwort der ETH-Forschenden: indem man ein zweiteiliges neuronales Tandemnetzwerk konstruiert. Der erste Teil des Netzwerks berechnet Parameter, die zur L?sung physikalischer Aufgaben geeignet sein k?nnten. Der zweite Teil l?st basierend darauf ein konkretes Beispiel. Der erste Teil justiert die Parameter dann so lange, bis der zweite Teil die gestellten Aufgaben bew?ltigen kann.

?Im Grund genommen imitieren wir damit das Prinzip von physikalischen Formeln?, erl?utert Renner. ?Diese vermitteln in kondensierter Form, welche Parameter man wie kombinieren muss, um eine bestimmte Aufgabe zu l?sen.? Der erste Teil des neuronalen Netzwerks übergibt dem zweiten zwar keine konkrete physikalische Formel. Aber anhand der Parameter, die an der Schnittstelle der beiden Teile übergeben werden, k?nnen die Physiker physikalische Formeln ableiten – auch wieder mit Hilfe von spezialisierten Computerprogrammen. ?Wenn ein neuronales Netz gelernt hat, quantenmechanische Probleme zu l?sen, findet es vielleicht eine alternative Art, Quantensysteme zu beschreiben – so hoffen wir jedenfalls?, erkl?rt Renner.

Das Prinzip funktioniert

Dass die Idee grunds?tzlich funktioniert, konnten die ETH-Physiker anhand von einfachen physikalischen Aufgaben demonstrieren. Sie liessen das neuronale Tandemnetzwerk berechnen, wo der Planet Mars am Nachthimmel zu sehen ist. Die Wissenschaftler stellten dazu dem Netzwerk nur die Positionsdaten des Planeten und der Sonne zur Verfügung, die man von der Erde aus gemessen hat.

Das neuronale Netzwerk fand dann heraus, dass jene Parameter relevant sind, die man ben?tigt, wenn man die Position des Mars anhand des heliozentrischen Weltbilds berechnen will. Das neuronale Netzwerk fand also die ?richtige? L?sung, obwohl es in den Ausgangsdaten keinerlei direkten Hinweise gab, dass sich die Erde und der Mars um die Sonne drehen und nicht die Erde im Zentrum unseres Sonnensystems steht.

Unbelastet von Pr?missen

Das Tandemnetzwerk der ETH-Physiker ist allerdings noch nicht in der Lage, komplexere quantenmechanische Probleme zu l?sen. ?Aber unsere Arbeit zeigt, dass das ein vielversprechendes Instrument für uns theoretischen Physiker sein k?nnte?, meint Renner. Der grosse Vorteil des Netzwerks ist, dass es unbelastet von irgendwelchen Pr?missen arbeitet. ?Natürlich kann man die Bewegung des Mars auch erkl?ren, wenn man annimmt, die Erde stünde im Zentrum. Doch dann werden die Berechnungen sehr aufw?ndig?, erkl?rt Renner. ?In der Quantenphysik stehen wir an einem ?hnlichen Punkt: Wir haben eine Theorie, die vieles erkl?ren kann. Aber wir sind m?glicherweise blind für eine andere Beschreibung, die das Ganze viel eleganter erkl?ren kann.?

Wie kommt man zur richtigen L?sung?

Der ETH-Professor ist sich bewusst, dass die Suche nach einer anderen Beschreibung schwierig wird. Denn die n?chste grosse Frage stellt sich sogleich: Welche Ausgangsdaten stellt man dem neuronalen Netzwerk zur Verfügung? ?Die Aufgabe mit den Planeten war im Grunde genommen einfach, weil wir wussten, mit welchen Ausgangsdaten man zur richtigen L?sung kommt?, meint Renner. ?Doch wenn wir nach neuen Einsichten suchen, haben wir dieses Wissen nicht mehr zur Hand.?

Literaturhinweis

Iten R, Metger T, Wilming H, del Rio L, Renner R. Discovering physical concepts with neural networks. Physical Review Letters, 2019. DOI: externe Seite 10.1103/PhysRevLett.124.010508

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