Vom Wert der Wissenschaft bei schwierigen Entscheidungen
In Notsituationen wie der Corona-Krise zeigt sich der Wert von Forschung und Fakten. Auch wenn Wissenschaft nicht alles weiss (oder kann), sollten wir mehr auf ihre Stimme h?ren, r?t Reto Knutti.
Eine Krise, und pl?tzlich stehen alle solidarisch zusammen und helfen einander. Die Parteien unterstützen geschlossen das Vorgehen von Bundesrat und Beh?rden, die innerhalb von Tagen drastische Massnahmen zum Schutz von uns allen beschlossen haben. Das ist richtig. Dennoch trifft uns Corona hart.
Die Isolation gibt auch Zeit, nachzudenken. Warum handeln wir bei der Pandemie derart dezidiert, in anderen Situationen aber nicht? Um es vorwegzunehmen, ich bin kein Experte in Medizin und kann zur Epidemie keine Empfehlungen abgeben. Die gegenw?rtige Krise hat jedoch erstaunliche viele Parallelen zu den Problemen bei Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit.
Gemeinsame Muster
Erstens sind all diese Bedrohungen global, unsichtbar und somit schwer zu fassen. Die Gefahr erscheint uns zuerst klein, und wir sind noch nicht pers?nlich betroffen. Wir tun uns schwer, auf Prognosen zu reagieren, wenn wir etwas noch nie erlebt haben. Meistens lernen wir erst aus eigener Erfahrung und weniger aus Zeitungen oder Zahlen.
Zweitens sind die Gesundheit der Gesellschaft und eine intakte Umwelt ein ?ffentliches Gut: Es braucht verbindliche Regeln, um es zu schützen. Technologie und Eigenverantwortung allein l?sen die Probleme nicht. H?ufig treten Trittbrettfahrer auf, die sich nicht an die Vorgaben halten und den kurzfristigen individuellen Nutzen über das Gemeinwohl stellen. Meistens sind es die Schwachen, die es in der Krise zuerst und am st?rksten trifft. Solidarit?t mit den Verletzlichen ist daher zentral.
Und drittens lohnt es sich bei diesen Bedrohungen, früh und entschieden zu handeln. Das kostet kurzfristig mehr, aber langfristig profitieren die meisten. Abwarten schr?nkt fast immer den Handlungsspielraum ein. Schliesslich haben in diesen Krisen – ob Corona oder Klima – Expertinnen und Experten im Vorfeld die Konsequenzen aufgezeigt, aber werden erst sehr sp?t geh?rt.
Agieren, nur wenn man wirklich muss?
Es gibt aber auch Unterschiede: Wir sehen heute Regierungen, die innert Tagen das ?ffentliche Leben und die Wirtschaft auf Notbetrieb runterfahren: abrupt, einschneidend, aber erstaunlicherweise durchsetzbar, trotz der enormen Kosten. Das ist m?glich, weil sich die Lage weltweit und in unserem eigenen Land rasant zuspitzt. Die Gefahr droht unmittelbar. Es bleibt keine Zeit, zu debattieren, zu lobbyieren oder Zweifel zu s?en.
Bei der Umwelt und dem Klima hingegen haben wir einen weiteren Zeithorizont. Probleme zeigen sich weniger akut und zuerst in Entwicklungsl?ndern. Wir fühlen uns nicht unmittelbar bedroht.
Was Wissenschaft kann
Die Pandemie zeigt derweil gnadenlos auf, dass es t?dlich sein kann, wenn wir Tatsachen ignorieren oder verharmlosen. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass wir alle trotz Warnungen von Experten die Situation untersch?tzt haben.1 Selbst gewichtige Stimmen der für Autonomie und Liberalismus bekannten NZZ finden, dass die Regierung zu sp?t gehandelt hat.2
Das ist kein Vorwurf – bestenfalls eine Einsicht. In Situationen, die sich durch grosse Unsicherheit und hohe Risiken auszeichnen, sind Entscheide schwierig zu treffen. Sowohl bei Corona als auch beim Klima müssen Beh?rden und Politik zwischen Risiken, Kosten, Nutzen und nicht zuletzt dem Zumutbaren abw?gen. Die Wissenschaft will dem nicht vorgreifen. Auch sie weiss nie alles, und sie kann nicht vorschreiben, was zu tun ist.
?Wir k?nnen daraus lernen, auch andere globale Bedrohungen ernst zu nehmen und auf der Basis wissenschaftlicher Fakten vorausschauender zu handeln.?Reto Knutti
Physik beim Klimawandel oder die Epidemiologie beim Coronavirus k?nnen aber faktische Grundlagen für Entscheidungen liefern. Sie k?nnen in Szenarien aufzeigen, was wahrscheinlich funktioniert und was sicher nicht. Doch dafür müssen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen angeh?rt werden und die entsprechenden Gremien und Kan?le müssen etabliert sein. Nur wer im Voraus die relevanten Zusammenh?nge und die Verwundbarkeit versteht, in kritischen Situationen die Bedrohungslage rasch analysiert und entscheidende Informationen richtig gewichtet, wird langfristig bestehen k?nnen.
Evidenzbasiert handeln
Bei der Pandemie waren wir ungenügend vorbereitet und haben trotz Warnungen zu z?gerlich agiert.3, 4 Unser Umgang mit dem Virus zeigt aber auch eindrücklich auf, dass wir als Gesellschaft f?hig sind, kollektiv, koordiniert und solidarisch auf eine Bedrohung zu reagieren. Das macht Mut. Corona wird nicht die letzte Krise sein. Wir k?nnen daraus lernen, auch andere globale Bedrohungen ernst zu nehmen und auf der Basis wissenschaftlicher Fakten vorausschauender zu handeln.
Dieser Beitrag erscheint unter anderem in der Aargauer Zeitung, im externe Seite St. Galler Tagblatt und in der externe Seite BZ.
Referenzen
1 NZZ Meinung (16.03.2020): externe Seite Zu sp?t, zu z?gerlich
2 Sonntagszeitung (15.03.2020): externe Seite Die fünf Phasen der Verharmlosung
3 SRF (20.03.2020): externe Seite Vers?umnisse bei der Vorsorge
4 Tagesanzeiger (13.03.2020): externe Seite Wir brauchen sofort drastische Massnahmen