«In zwei Wochen könnten IPS-Kapazitäten am Anschlag sein»
ETH-Professor Thomas Van Boeckel und seine Mitarbeitenden haben ein Modell entwickelt, mit dem sie die Belegung von Intensivpflegebetten prognostizieren k?nnen. Dieses besagt im Moment nichts Gutes für die kommenden Wochen, wenn sich das Corona-Virus weiterhin ungebremst verbreiten kann.
Thomas Van Boeckel, Sie haben eine Webseite mit Prognosen über die Belegung von Betten auf Intensivstationen in Schweizer Spit?lern lanciert. Es st?sst zurzeit auf grosses Interesse. Was zeigt die Webseite?
Unsere externe Seite Plattform zeigt auf einen Blick die Auslastung von Betten auf Intensivstationen, aufgeschlüsselt auf Regionen, Kantone und einzelne Spit?ler. Auf letztere Grafik erhalten allerdings nur Spit?ler selbst und die Armee Zugriff. Darüber hinaus bieten wir Prognosen, wie sich die Situation in drei und in sieben Tagen entwickeln k?nnte.
Wie genau sind die Vorhersagen?
Wie die meisten epidemiologischen Modelle kann auch diese Vorhersage falsch sein. Sie kann aber auch sehr nützlich sein. In der vergangenen Woche hatten einige dieser Modelle Mühe damit, den explosiven Verlauf der Epidemie zu erfassen. Als sich Mitte September die Epidemie verlangsamte, staunten viele Epidemiologen über das Muster. Doch im Oktober ist die Pandemie erneut ausgebrochen. Epidemie-Modelle sind normalerweise nicht so gut darin, solche h?chst variablen Situationen zu erfassen.
Wie l?sen Sie dieses Problem?
Wir arbeiten mit drei verschiedenen Modellen mit unterschiedlichen Eigenschaften. Das dritte Modell heisst MG-Modell. Es wurde von Kollegen des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts entwickelt und ist besser geeignet, solche kurzfristigen Variationen zu abzubilden. Ich m?chte die Leute ermutigen, sich in den kommenden Tagen das MG-Modell anzuschauen. Es ist im Moment das genaueste.
Welche Daten verwenden Sie?
Wir verwenden Daten aus verschiedenen Quellen. Seit M?rz verwenden wir Daten des Koordinierten Sanit?tsdienstes KSD der Schweizer Armee. Diese Daten umfassen die Belegung der Betten auf der Intensivstation, die Gesamtzahl der verfügbaren Betten und die Zahl der Personen, die diese Betten belegen. Wir verwenden auch Daten des Bundesamts für Gesundheit BAG, wie Fallzahlen und Todesf?lle. Wenn das BAG nichts meldet, etwa an Wochenenden, verwenden wir offene Beh?rdendaten des Kantons Zürich. Wir nutzen zudem Daten aus dem Universit?tsspital Zürich über die Aufenthaltsdauer von Patienten auf der Intensivstation.
Gibt es ein Problem mit der Konsistenz der Daten?
Nein, eigentlich nicht. Die gr?sste Herausforderung besteht darin, die Daten von verschiedenen Akteuren zu erhalten. Manchmal geht das sehr schnell, weil wir uns mit Datenlieferanten nur mündlich absprechen mussten. Manchmal war es mühsamer, die bürokratischen Hindernisse zu überwinden. Vielleicht sollte man in Epidemiezeiten die bisherigen Modi für das Teilen von Daten überdenken.
Im Frühjahr wurde Ihr Modell kritisiert, weil es besagte, die Bettenkapazit?t der Intensivstationen k?nnte ersch?pft sein, obwohl die Krankenh?user nie an ihr Limit gelangten. Sie stockten zudem ihre Kapazit?ten auf, sodass die volle Kapazit?t h?her lag als erwartet. Berücksichtigt das neue Modell diese ?versteckten? Kapazit?ten?
Dies war Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Ein Grund für die Fehlprognose war eine Divergenz bei der Zahl von Betten, die die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) zertifiziert hatte, der Zahl der Betten, welche die Spit?ler in das IES-System des Koordinierten Sanit?tsdienstes der Armee als ?zertifiziert? eingaben und der Zahl der Betten, die ad hoc in Betrieb genommen wurden w?hrend der ersten Welle. Diese letztere Zahl wurde aufgrund der Notfallsituation nicht immer rechtzeitig mitgeteilt, sodass wir diese Information nicht für unsere erste Vorhersage hatten.
Ist das Problem mit den "versteckten Betten" im aktuellen Modell gel?st?
Ja, dank der Zusammenarbeit mit der Armee und der SGI haben sich die Dinge in die richtige Richtung bewegt. Wir diskutierten viel, verglichen Datenquellen und Expertenmeinungen, und nun sind wir übereingekommen, welche Obergrenze für die IPS-Bettenkapazit?t in der Schweiz realisitisch ist, n?mlich 1400 Betten. Auch die Spit?ler haben die rechtzeitige Berichterstattung verbessert, was uns hilft, ihnen zu helfen. Es scheint aber immer noch Krankenh?user zu geben, die dabei Mühe haben, welche Information sie in welches Eingabefeld im KSD-System eingeben müssen. Das ist jedoch selten geworden.
Alles in allem ist das Modell zuverl?ssiger und genauer?
In der vergangenen Woche war die Situation ?usserst explosiv. Wir passen deshalb unser Modell an, um dieses Ereignis besser widerspiegeln zu k?nnen. Wie ich vorher erkl?rte, ist das MG-Modell momentan das Beste, um die laufende Situation abzubilden. Aber ich denke, dass sich die Qualit?t der Daten, die wir für das Modell ben?tigen, in den letzten Monaten erheblich verbessert hat. Wir sind auch dazu bereit, weitere Modelle von anderen Forschungsgruppen in der Schweiz in unsere Website einzubetten.
Ihre Berechnungen geben die Auslastung der ISP-Betten derzeit (Stand: Freitag, 23.10.) mit 65% an. Dabei handelt es sich jedoch nicht nur um Betten, die von Covid-19-Patienten belegt sind?
Absolut, das ist wichtig. Im Moment noch sind die meisten Patienten auf der Intensivstation ?normale? Patienten, die eine dringende Operation oder einen Unfall hatten. Das Problem ist, dass die Zahl der Covid-19-Patienten sehr rasch zunimmt. Daher k?nnten sich die IPS-Betten rasant mit solchen Patienten füllen. Zusammen mit meinen Kollegen und Kolleginnen von der Swiss National Covid-19 Science Task Force haben wir versucht abzusch?tzen, wann die Betten voll sein werden.
Und wie lautet die Antwort?
Am Freitag pr?sentierte Task-Force-Leiter Martin Ackermann unsere Resultate an der Pressekonferenz des Bundesrates. Die Antwort ist, dass die IPS-Betten in zwei bis vier Wochen voll sein k?nnten (Anm. der Red: Stand 22.10.2020). Aber das k?nnte sich ?ndern, wenn striktere Massnahmen ergriffen werden.
Sind wir darauf vorbereitet?
Das ist eine Frage für das medizinische Personal und ?rzte. Selbst wenn sofort einschneidende Massnahmen beschlossen werden, müssen wir die Situation in zwei Wochen wieder beurteilen. Solange dauert es, bis wir erkennen, was die Massnahmen bewirken. Unsere Prognosen zeigen: Wird nichts unternommen und folgt die Epidemie ihrem aktuellen Verlauf, werden wir in zwei Wochen gef?hrlich nahe an die Kapazit?tsgrenze des Schweizer Gesundheitssystems stossen. Jenseits der Bettenzahlen ist der begrenzende Faktor das medizinische Personal, das die Patienten in diesen Betten betreut. Man kann immer neue Betten kaufen, aber man kein zus?tzliches Pflegepersonal kaufen. ?rztinnen und Pfleger leisteten schon w?hrend der ersten Epidemiewelle einen gewaltigen Effort. Sie sind verst?ndlicherweise ersch?pft. Das ist kritisch.
Im Verlauf der ersten Pandemiewelle stieg die Zahl der Betten pl?tzlich an, am 16. April wurden 1600 Betten auf der Intensivstation ausgewiesen. Die Spitzenauslastung betrug damals aber nur etwas mehr als 1000. Wieso setzen Sie die Grenze für IPS-Betten auf 1400 fest?
Als wir mit Vertretern der SGIM sprachen, schlugen sie vor, dass ?rztinnen und ?rzte maximal 1400 Patienten in Intensivbetten betreuen k?nnen. Daher sollten wir auf keinen Fall nahe an diese Grenze gehen. Liegt die IPS-Bettenzahl h?her als 1400, kann die Qualit?t der Versorgung nicht garantiert werden. Diese hohe Versorgungsqualit?t war ein wichtiger Faktor für den Erfolg der Schweiz im Umgang mit der ersten Covid-19-Welle. Wir hatten nicht die Situation wie in Italien oder Grossbritannien, wo das Personal Patienten nicht mehr betreuen konnten. Daher sehen wir 1400 IPS-Patienten als maximale Anzahl, die Krankenh?user versorgen k?nnen.
Laufen wir in eine Situation wie in Bergamo?
Das h?ngt davon ab, was die Bev?lkerung und die Beh?rden tun. Wenn nichts getan wird, k?nnten wir durchaus in eine Situation wie in Bergamo geraten. Aber ich hoffe, dass sich Einsicht und Weisheit durchsetzen. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass nun jeder Tag z?hlt, um eine solche Situation zu vermeiden! Man muss sich folgendes vor Augen halten: Nehmen wir an, dass der gegenw?rtige Epidemieverlauf anh?lt und die Kapazit?t der Intensivstation von 1400 Betten erreicht ist. Dann dauert es nur zwei Tage, um die zus?tzliche Kapazit?t von 200 Betten zu füllen. Die Kapazit?t zu erh?hen ist deshalb nicht die L?sung. Wir müssen die ?bertragung des Virus eind?mmen.
Mit welchen Massnahmen?
Wir müssen die Dinge tun, die wir bereits kennen. Das bisherige System mit Tests, Rückverfolgung, Isolation und Quarant?ne, ger?t aufgrund der hohen Fallzahlen aus den Fugen. Wir müssen dieses System verst?rken und uns neue M?glichkeiten überlegen, wie wir die ?bertragungen mindern.
Welche Massnahmen kann die Regierung nun in der ganzen Schweiz ergreifen?
Das habe nicht ich zu entscheiden. Ich beobachte die Covid-19-Situation nur, und zusammen mit meinen Kollegen stellen wir Politikern wissenschaftliche Daten zur Verfügung. Am Schluss entscheiden sie. Die wissenschaftliche Task Force hat klare Empfehlungen abgegeben: Wir müssen wenn m?glich zu Hause arbeiten, Kontakte so stark wie m?glich eingrenzen, Orte meiden, an denen wir eine hohe ?bertragungswahrscheinlichkeit haben, wie Orte mit schlechter Belüftung, und viele Menschen im gleichen Raum, wie Bars, Sportst?tten usw. Das haben auch die Nachbarl?nder getan. Belgien zum Beispiel hat die Bars für einen Monat geschlossen, Frankreich schliesst Bars und Restaurants nach 21 Uhr. Wir müssen verstehen, dass wir solche Massnahmen brauchen, wenn wir die ?bertragungen reduzieren wollen. Erinnern Sie sich? Im M?rz und April haben wir strengere Massnahmen ergriffen, und es hat einige Zeit gedauert, bis die ?bertragungen zurückgingen.
Wie bereiten sich die Spit?ler vor? Verlassen sie sich jetzt auf Ihr Modell?
Ich kann nicht für die ?rzte sprechen, sie wissen am besten wie sich vorbereiten müssen. Aber wir hatten letzte Woche viele Anfragen von IPS-?rztinnen, die einen Zugang zu den Daten auf Krankenhausebene wollten. Manche Mediziner fanden, die Daten seien nützlich und genau. Andere sagen, sie seien ungenau. Mit solchen ?rzten suchen wir die Zusammenarbeit und versuchen zu verstehen, weshalb dem so ist, und unser Modell anzupassen. Wir versuchen immer, mithilfe ihrer Rückmeldungen das Modell zu verbessern.
Wird das Modell in naher Zukunft verbessert werden?
Wir arbeiten im Moment rund um die Uhr daran. Es gibt unsichtbare Helden, die zum Modell beitragen. Die Gruppe der Studenten und Postdoktoranden, die seit M?rz mit mir zusammenarbeiten, geh?rt dazu. Ich m?chte diese Gelegenheit nutzen, um den Menschen an der ETH und an anderen Schweizer Universit?ten zu danken: Cheng Zhao, Nicolas Criscuolo, Peter Ashcroft von der ETH, Burcu Tepekule von der USZ, Monica Golumbeanu vom SwissTPH und Riccardo Delli Compagni, die dank der Unterstützung des SNF vor kurzem zu unserem Team gestossen sind. Einige dieser Studierenden haben ihre eigenen Projekte zurückgestellt, um an der Webplattform icumonitoring.ch zu arbeiten. Finanziell unterstützt hat uns auch der ETH-Vizepr?sident Forschung, Detlef Günther.
Arbeiten Sie auch mit ETH-Professorin Tanja Stadler und ihrer Gruppe zusammen, die den berühmten R-Wert berechnet?
Ja, wir arbeiten zusammen in der Schweizer Task Force Covid-19 und treffen uns jeden Montag. Obwohl es diese Woche eher wie jeden Tag war! Wir diskutieren also laufend über unsere Modelle. Ausserdem verwenden wir Informationen aus ihrem Modell und versuchen, damit unser Modell zu verfeinern. Die Zusammenarbeit mit ihr und ihrer Gruppe war sehr hilfreich, um unser Modell zu verbessern. Zudem erhalten wir auch Tipps zur Weiterentwicklung der Webseite.
Zur Person
Der 35-j?hrige Thomas Van Boeckel ist seit 2019 Assistenzprofessor für Gesundheitsgeografie und Politik an der ETH Zürich und Mitglied der Swiss National Covid-19 Science Task Force des Bundes. Er arbeitet in der Expertengruppe ?externe Seite Data and modelling?, die geleitet wird von ETH-Professor Sebastian Bonhoeffer.