Mutationen auf verschiedenen Ebenen der Zelle verstehen
Forscher um den emeritierten ETH-Professor Ruedi Aebersold zeigten exemplarisch, wie sich Mutationen in einem Gen auf die Struktur, Funktion und das Interaktions-Netzwerk eines Proteinkomplexes auswirken. Die Arbeit bildet eine wichtige Grundlage für die Personalisierte Medizin.
In den 1990er Jahren riefen Wissenschaftler das Genomzeitalter aus. In der Folge wurde das Erbgut, die DNA, von vielen Organismen Baustein für Baustein bestimmt. Man denke beispielsweise an das Human Genome Project. 2003 nahmen die daran beteiligten Forscher für sich in Anspruch, das gesamte Genom – also die gesamte Bausteinabfolge – eines Menschen entschlüsselt zu haben.
Bei dieser emsigen T?tigkeit wurden allerdings auch sehr viele Mutationen entdeckt, also Ver?nderungen in einzelnen Genen. Mittlerweile gibt es riesige Datenbanken, die diese Mutationen auflisten. Doch verstanden sind diese nach wie vor nur unvollst?ndig – oder gar nicht.
?DNA beinhaltet die Bauanleitung für Proteine?, sagt Martin Mehnert, ehemaliger Postdoktorand bei Systembiologie-Professor Ruedi Aebersold. ?Ist die Bauanleitung fehlerhaft, so kann sich dies auf Proteine, ihre Funktionen und Aktivit?ten sowie auf ihre Wechselwirkungen mit anderen Molekülen auswirken.? Wie sich solche Bauanleitungsfehler tats?chlich im Detail auswirken, sei weitgehend unbekannt.
Hier setzten die ETH-Forschenden denn auch an. In einer Studie, die in Nature Communications erschienen ist, zeigen sie auf, wie sich Mutationen in einem Gen des Enzyms Dyrk2 auf das Protein selbst, dessen Struktur, Funktion und Interaktionsnetzwerk auswirkt.
Das Enzym Dyrk2, eine Kinase, ist Teil eines Proteinkomplexes, der ein weiteres Enzym und eine Andockstelle für verschiedene andere Proteine enth?lt, welche von den Enzymen bearbeitet werden.
Dyrk2 ist zust?ndig für die Phosphorylierung. Dabei knüpft das Enzym ein Phosphatmolekül an bestimmte Stellen anderer Proteine. Das zweite Enzym des Komplexes, eine Ligase, setzt daraufhin den phosphorylierten Proteinen mehrere Ubiquitin-Moleküle auf. Das sorgt dafür, dass das entsprechend markierte Protein einem molekularen Schredder zugeführt wird.
Die Auswirkungen von Mutationen messen
Für ihre Studie w?hlten die ETH-Forscher sechs bekannte Mutationen des Dyrk2-Gens aus einer Datenbank aus. Für jede Mutation hatten Bioinformatiker im Voraus das m?gliche Ausmass der Sch?den berechnet, den ?Damage Probability Score?.
Um nun die effektiven Folgen der Mutationen im Dyrk2-Gen auf Zellebene zu erfassen, vermassen die Forschenden mithilfe verschiedener massenspektrometrischer Methoden s?mtliche Proteine sowie ihre Phosphorylierungen, die in der Zelle vorlagen – das sogenannte Proteom. ?Das Besondere an dieser Arbeit ist, dass wir mithilfe der Proteomik den Fussabdruck von Mutationen auf verschiedene zellul?re Systeme gleichzeitig messen k?nnen?, sagt Martin Mehnert, der als EMBO-Stipendiat fünf Jahre an diesem Projekt gearbeitet hat. Ruedi Aebersold finanzierte die Studie mit seinem zweiten ERC Advanced Grant.
Stille und verheerende Mutationen gefunden
Die Proteom-Analysen zeigten, dass bereits nur ein ver?nderter Baustein des Dyrk2-Gens die Zelle auf unterschiedlichen Ebenen beeinflussen kann: Das betrifft die r?umliche Anordnung des Enzyms, dessen Interaktionen mit anderen Proteinen bis hin zum Phosphoproteom, also der Gesamtheit aller mit Phosphaten bestückten Proteine.
Einige der untersuchten Mutationen beeintr?chtigten die Funktion und Aktivit?t des Komplexes so massiv, dass die beiden Enzyme des Komplexes nicht mehr miteinander wechselwirken k?nnen. Das führt zu Fehlfunktionen und letztlich zum Zerfall des Komplexes, was sich wiederum auf andere zellul?re Systeme auswirken kann.
Doch nicht alle der Mutationen gehen mit Sch?den einher. Einige der untersuchten Genver?nderungen waren eher ?still?, demnach folgenlos für die Funktion, Struktur und Interaktionsnetzwerk des Enzymkomplexes.
Ausmass überraschte Forschende
?Von den sehr unterschiedlichen Folgen der Mutationen waren wir allerdings überrascht, weil der berechnete ‘Damage Probability Score’ für diese Ver?nderungen sehr ?hnlich war. Wir hatten zudem nicht erwartet, dass einzelne Punktmutationen einen solch starken Effekt auf Interaktionen zwischen Proteinen haben k?nnen?, sagt Mehnert.
Die Versuche zeigten denn auch, dass die mit Algorithmen berechneten Vorhersagen nicht immer stimmen. ?Um Krankheiten zu verstehen, müsse man deshalb über Genomuntersuchungen hinausgehen und das Zusammenspiel auf der Ebene der Proteine und deren Netzwerke experimentell überprüfen?, erkl?rt der Systembiologe.
Auf dem Weg zur Personalisierten Medizin
Moderne Massenspektrometrische Methoden erlauben es zusehends, tausende Proteine gleichzeitig qualitativ und quantitativ zu erfassen. Zwar zeigen die Forschenden um Aebersold das Potenzial ihres Vorgehens vorerst nur an einem einzelnen Proteinkomplex auf. Künftig k?nnten durch Automatisation sowie durch neue schnellere Analyseger?te und Messmethoden Dutzende solcher Komplexe innerhalb kurzer Zeit betrachtet werden.
Die Erkenntnisse sind ein Grundstein für die Personalisierte Medizin der Zukunft. Bisher wurden in der Klinik oft nur einzelne Proteine als Marker für bestimmte Tumore verwendet, so zum Beispiel ob viel oder wenig des Markers in Zellen vorhanden ist. ?Das sagt jedoch nicht viel über den Mechanismus oder Signalwege aus, oder ob eine Mutation krankheitsrelevant ist oder nicht?, erkl?rt Mehnert. Anhand von Proteomik-Analysen k?nne man wesentlich besser verstehen, was Mutationen im K?rper bewirken und welche Behandlung tats?chlich helfen k?nnte.
Mutationen des in dieser Studie verwendeten Enzym-Komplexes stehen im Zusammenhang mit Brustkrebs. Dyrk2 scheint aber auch bei anderen Krebsarten ver?ndert zu sein. Einige Forschende weisen darauf hin, dass dieses Enzym in der Krebsentwicklung deshalb eine Rolle spielen k?nnte, weil es den Tumorsuppressor P53 phosphopryliert und damit dessen Stabilit?t beeinflusst. Dyrk2 spielt zudem eine Rolle bei der Reparatur von DNA-Sch?den.
Trotz seiner wichtigen Rolle im Zellzyklus wurde dieses Enzym bis anhin von der Forschung eher vernachl?ssigt. Das war mit ein Grund dafür, dass Mehnert und Kollegen dieses genauer analysieren wollten.
?Natürlich sind die vorliegenden Resultate nur der erste Schritt. Es w?re aber sinnvoll dieses Konzept hier weiterzuführen und auf mehrere Proteinkomplexe in Zukunft anzuwenden?, betont der Systembiologe.
Literaturhinweis
Mehner M, Ciuffa R, Frommelt F et al.: Multi-layered proteomic analyses decode compositional and functional effects of cancer mutations on kinase complexes. Nat Commun 11, 16. Juli 2020, doi: externe Seite https://doi.org/10.1038/s41467-020-17387-y