KI warnt vor Murgängen
Bei Ger?ll- und Schlammlawinen bleibt meistens wenig Zeit zu warnen. Mit seismischem Monitoring und maschinellem Lernen entwickelten Forschende der ETH Zürich und der WSL ein Alarmsystem, das bei Murg?ngen am Illgraben frühzeitig warnen kann.
Murg?nge sind Gemenge aus Ger?ll, Erde und Wasser. Oft entstehen sie bei Starkregen in steilem alpinen Gel?nde und donnern unkontrolliert durch Schluchten und Bergb?che ins Tal. Allein in der Schweiz gibt es mehrere hundert Ereignisse pro Jahr. Der Klimawandel begünstigt das Naturph?nomen, weil Permafrostb?den zusehends instabil werden und Extremwetterereignisse zunehmen. Sind Murg?nge besonders gross oder treten sie an unerwarteten Orten auf, entfalten sie ein erhebliches Zerst?rungspotenzial, das Menschen, Infrastruktur und Umwelt bedroht.
Um die Gefahr in exponierten Gebieten zu mindern, spielen Warnsysteme eine wichtige Rolle. Entscheidend ist, die nahenden Schlamm- und Ger?llmassen m?glichst früh und zuverl?ssig zu erkennen. Heute basieren Alarmsysteme auf Instrumenten, die typischerweise in zug?nglichen, tiefergelegenen Talabschnitten installiert werden müssen. So registrieren sie Ereignisse erst relativ sp?t – ein weitverbreitetes Problem bei der Murgangdetektion.
Forschende der ETH Zürich und der WSL haben nun einen neuartigen Detektor entwickelt, der Murg?nge bereits früher erkennen kann. Er identifiziert schon kleinste Erschütterungen aus sicherer Distanz, die Murg?nge kurz nach ihrer Ausl?sung verursachen. Ihren neuartigen Ansatz stellten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Fabian Walter, ETH-Professor für Gletscherseismologie, in der Fachzeitschrift externe Seite Geophysical Research Letters vor.
Messungen am Murgang-Testgel?nde Illgraben
Für ihre Studie w?hlten die Forschenden den Illgraben im Kanton Wallis. An den steilen H?ngen des oberen Einzugsgebietes des Gerinnes bricht h?ufig Fels- und Erdmaterial ab – es entstehen mitunter gewaltige Ger?ll- und Schlammlawinen, die sich über zwei bis drei Kilometer durch die tief eingeschnittene Schlucht des Illgrabens w?lzen. Anschliessend erreichen sie das Haupttal und legen noch einmal diese Distanz zurück, bevor sie in die Rhone münden. Die WSL betreibt am Illgraben seit gut 20 Jahren ein Observatorium mit Messstationen, um die Bildung und Bewegung von Murg?ngen zu studieren und ihre Masse, Dichte und Geschwindigkeit zu bestimmen.
In den 1960er Jahren wurde das untere Gerinne des Illgrabens saniert und mit mehreren Talsperren gesichert, so dass die meisten Niederg?nge im Gerinne verbleiben und umliegendes Gel?nde, etwa die Mündung des Illgrabens in die Rhone, nicht gef?hrden. Da verschiedene Wanderwege nahe am Graben und durch das Gerinne verlaufen, alarmiert seit 2007 ein Frühwarnsystem vor Murg?ngen.
Dieses System basiert auf Sensoren im Bachbett, darunter Geophone, Radar- und Lasermessger?te sowie Videokameras. Die Instrumente erfassen vorbeiziehende Murg?nge zwar zuverl?ssig, sind aber nur im unteren Abschnittt des Tals einsetzbar, wo der Wildbach zug?nglich ist. Das begrenzt die Warnzeit auf wenige Minuten.
Murg?nge mit seismischen Sensoren erfassen
An diesem Schwachpunkt setzt die neue Studie an. ?Wir wollen Steinschl?ge und Murg?nge so früh wie m?glich detektieren, um die Bev?lkerung in Risikogebieten mit genügend Vorlaufzeit zu warnen?, erkl?rt Ma?gorzata Chmiel, Erstautorin des Papers und Postdoktorandin in Walters Forschungsgruppe an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH Zürich. Statt Murg?nge mit üblichen Instrumenten zu überwachen, verwenden Walter und sein Team seismische Sensoren, die normalerweise bei der Messung von Erdbeben eingesetzt werden.
Mit Seismometern lassen sich auch Erschütterungen von Murg?ngen aufzeichen. Diese k?nnen je nach Ereignisgr?sse sogar mehrere Kilometer entfernt sein. ?Somit sind Murg?nge bereits potenziell detektierbar, wenn sie sich noch in h?her gelegenen und unzug?nglichen Gebieten befinden?, erkl?rt Walter den Vorteil des neuartigen ?berwachungssystems. Zu diesem Zweck installierten die Forschenden ein Netzwerk von Seismometern rund um das Einzugsgebiet des Illgrabens.
Knackpunkt: Automatische Erkennung
Die eigentliche Herausforderung lag jedoch darin, einen Detektor zu schaffen, der in einem kontinuierlichen Strom seismischer Daten spezifisch die Erschütterungen eines Murgangs von anderen Bodenvibrationen unterscheiden kann. Denn auch Kuhherden, entfernte Baustellen oder der Bahn- und Strassenverkehr lassen die Erde zittern.
Walters Team setzte auf maschinelles Lernen – eine Methode der Künstlichen Intelligenz, bei der ein Rechner selbst?ndig anhand von Trainingsdaten lernt, wie er Muster in grossen Datens?tzen erkennen kann. Die Forschenden trainierten den Lernalgorithmus mit Signalen früherer Massenbewegungen, die sie zuvor am Illgraben aufgezeichnet hattten, insgesamt 22 Ereignisse. Danach testeten sie ihr System unter realen Bedingungen mit seismischen Monitoringdaten in Echtzeit.
Das Resultat: Von den 13 Murg?ngen und kleineren Flutereignissen, die sich im Sommer 2020 am Illgraben ereigneten, erkannte der KI-?Detektor jedes einzelne zuverl?ssig – ohne Fehlalarme zu generieren. ?Dabei erfasste der Algorithmus bereits die ersten Erschütterungen weit oben entstehender Murg?nge?, betont Walter. Am Illgraben erh?hte dies die Warnzeiten um mindestens 20 Minuten im Vergleich zu bestehenden Detektionssystemen. ?Das ist eine enorme Verbesserung?, weiss Walter.
Generalist oder Spezialist?
Mit ihrer Studie lieferten die Wissenschaftler den Nachweis, dass sich Murg?nge mit seismischen Daten und maschinellem Lernen frühzeitig erkennen lassen. Der Illgraben bietet dazu ein ideales Naturlabor, und der Ansatz funktioniert dort gut. Allerdings ben?tigt die Methode einen umfangreichen Satz von Murgangssignalen, um den Algorithmus zu trainieren. ?Solche Trainingsdaten sind woanders fast nie verfügbar?, r?umt der Spezialist für seismische Massenbewegungen ein.
Noch ist unklar, inwiefern der am Illgraben trainierte Detektor generell auch Murg?nge in anderen Einzugsgebieten erkennen kann. Die Forschenden wollen den Algorithmus künftig so erweitern, dass er auch mit weniger oder vielleicht sogar ohne ortsspezifische Trainingsdaten auskommt.
Kooperation zur Früherkennung von Naturgefahren
Die Ambitionen der Forschenden gehen aber noch weiter. Der neuartige Detektor ist ein erster Meilenstein in einem übergeordneten Projekt der WSL und Swisscom Broadcast. Die Forschungskooperation, an der auch Walters Gruppe massgeblich beteiligt ist, will das Monitoring von Massenbewegungen im Alpenraum verbessern. Swisscom Broadcast entwickelt dazu eine Plattform, die Datenstr?me aus unterschiedlichen Quellen zusammenführt und in Echtzeit auswertet, um Naturgefahren frühzeitig zu erkennen.
Derzeit wird die Naturgefahren-Plattform in erster Linie von Fabian Walters seismischen Sensoren sowie von Seismografen des Schweizerischen Erdbebendienstes gespiesen. Die Forschenden arbeiten daran, in Zukunft weitere relevante Datenquellen einzubinden – von Niederschlagswerten und Permafrostmessungen über seismisches Monitoring anhand von Glasfaserkabeln bis hin zu einer Vielzahl von Internet-of-Things-Sensoren. ?Um solche riesigen Datenmengen zu verarbeiten, braucht es Big-Data-Verfahren und intelligente Algortihmen?, sagt Walter. Der KI-Detektor für Murg?nge ist ein erster Schritt in diese Richtung.
Werkstattgespr?ch mit Fabian Walter
Fabian Walter h?lt seit 2015 eine vom Schweizer Nationalfonds (SNF) unterstützte Assisstenzprofessur für Gletscherseismologie an der ETH Zürich ein. Die vorliegende Studie wurde durch den Kanton Wallis, die WSL, den SNF, den Schweizerischen Erdbebendienst und die Swisscom Broadcast unterstützt.
Literaturhinweis
Chmiel M, Walter F, Wenner M, Zhang Z, McArdell BW, Hibert C: externe Seite Machine Learning Improves Debris Flow Warning. Geophysical Research Letters (2021), doi: externe Seite 10.1029/2020GL090874