Der Herr der Fliegen, der Daten und der sieben Velos
ETH-Professor und Molekularbiologe Ernst Hafen wird Ende Juli emeritiert. Ein Blick zurück auf eine turbulente Laufbahn eines vielseitig Interessierten, der sich nicht immer in der Blase der Molekulargenetik aufhalten wollte.
Bald ist Schluss. Schluss mit der Professur an der ETH, mit Forschungsprojekten und dem Unterricht. Ernst Hafen hat sich gut mit dem Gedanken angefreundet, dass seine aktive Zeit als Professor abgelaufen ist. ?Es gibt nichts Unerledigtes?, sagt er, am Tisch in seinem Büro sitzend.
Seine Forschungsgruppe hat er aufgel?st. Nur ein Mitarbeiter ist ihm geblieben, und dieser wird sein wohl letztes Forschungsvorhaben weiterführen, bei dem es um die Gesundheit von Honigbienen geht. Seit fünf Jahren h?lt Hafen mit seiner Frau Bienen auf dem Dach seiner Garage in Zürich – dabei wurde er mit den Problemen der Bienen konfrontiert, allem voran mit den Varroa-Milben, welche den V?lkern zusetzen. Dies habe ihn dazu inspiriert und motiviert, dieses Bienen-Projekt zu lancieren.
Sein angestammtes Forschungsfeld verl?sst Hafen dafür nicht. Ziel des Projekts ist mit Hilfe der Taufliege Drosophila, dem biologischen Modellsystem, dem Hafen 45 Jahre seiner Forschungst?tigkeit gewidmet hatte, neue Ans?tze zu testen, um die Bienengesundheit zu verbessern.
Hafens wissenschaftliche Laufbahn begann mit seinem Doktorat 1983 in Entwicklungsbiologie am Biozentrum in Basel. Im Laufe seiner Doktorarbeit konnte er nachweisen, wie und wo Gene, die die Anzahl der K?rpersegmente der Taufliege bestimmen, im Embryo angeschaltet werden. Sp?ter befasste er sich mit jenen Genen, die das Schicksal von Zellen bestimmen. Dabei deckte Hafen Mechanismen auf, welche bei der Krebsbildung eine wichtige Rolle spielen. ?Die Ver?nderung des Zellschicksals ist Teil der Krebsgenese. Das interessante ist, dass bei der Fliege und beim Menschen gleiche Gene involviert sind. Das hat damit zu tun, dass Mensch und Fliege vor 600 Millionen Jahren einen gemeinsamen Vorfahren hatten?, erkl?rt er.
Aus diesem Grund explodierte damals die Fliegenforschung, weil man bei Drosophila die Gene für Entwicklungsprozesse viel schneller identifizieren konnte als beim Menschen und diese auch für dessen Krankheiten relevant sind. Für seine Forschungserfolge wurde Ernst Hafen denn auch mehrfach mit renommierten Preisen ausgezeichnet, darunter der Ernst-?Jung-, der Friedrich-?Miescher- und der Otto-?Naegeli-Preis.
Den Vater übertrumpfen
Zur Biologie kam Hafen durch seinen Biologielehrer am Gymnasium. ?Bei Schweizer Jugend forscht hatte ich nie mitgemacht?, schmunzelt er. ?Ich hatte aber im Gymnasium einen sehr guten Lehrer, der mich für das Fach begeisterte.? Ein zus?tzlicher Ansporn sei aber auch gewesen, dass sein Vater, ein Germanist, Deutschlehrer und Rektor am Gymnasium Münchenstein, in Biologie eher schlecht war und der Sohn eine M?glichkeit sah, seinen ??bervater? darin zu übertrumpfen. Also schrieb er für das Studium der Molekular- und Zellbiologie am Biozentrum der Universit?t Basel ein.
In den Vorlesungen von Walter Gehring, einem bekannten Schweizer Molekular- und Entwicklungsbiologen, stiess Ernst Hafen erstmals auf die Fliege. Gehring habe beschrieben, wie sich in den dotterreichen Insekteneier die Kerne teilen, bis es mehrere tausend davon gibt. Einige davon wandern dann zum hinteren Ende des Eies, wo sie sich in die künftigen Samen- und Eizellen umwandeln. Schon damals vermutete Gehring, dass es unbekannte RNA-Moleküle geben müsse, die in diese Zellen gelangten und ihre Entwicklung steuerten. Hafen wollte das Problem l?sen. Er bewarb sich deshalb bei Gehring, der ihn jedoch abblitzen liess: kein Platz in der Gruppe. Dreimal hakte Hafen nach. Dann klappte es und er konnte bei Gehring im Labor seine Dissertation machen.
?Letztendlich fand ich nie heraus, welche Moleküle es waren, die das Schicksal dieser Zellen bestimmten. Aber ich entwickelte eine Methode, wie man diese Determinanten lokalisieren und auf dem Fliegen-Ei visualisieren kann. Das war nach drei Jahren Misserfolg mein wissenschaftlicher Durchbruch?, erz?hlt er. Davon zeugt das Titelbild der renommierten Fachzeitschrift ?Cell? von 1990, das er einrahmen liess und in seinem Büro aufbewahrt.
Diese Entdeckung gab auch seiner Doktorarbeit eine neue Richtung: Genetik als Methode zum Verst?ndnis von Entwicklungsbiologie. ?Ich hatte das Glück, dass ich mit dem amerikanischen Postdoc Mike Levine zusammenarbeiten konnte.? Für Hafen eine pr?gende Zeit: er saugte die Lebensart, die Levine und ein weiterer amerikanischer Postdoktorand im Labor lebten, in sich auf. ?Die beiden zeigten mir eine neue Welt. Sie hatten eine andere Kultur. Das Leben im Labor war spannender als das zuhause. Manchmal sassen wir um drei Uhr in der Früh im Labor, rauchten und tranken Bier.?
Hafen zog es deshalb nach Ende seiner Dissertation in die USA, wo er 1984 eine Postdoc-Stelle in Berkeley fand. W?hrend dieser Zeit entdeckte er in der Fliege ein Gen, das im Menschen als eines der Krebs-Gene bekannt war.
Nach drei Jahren in den USA kehrte Hafen mit seiner Frau und ihren ersten beiden von mittlerweile drei S?hnen in die Schweiz zurück. Er hatte sich unter anderem an der Universit?t Zürich auf eine Assistenzprofessur am Zoologischen Institut beworben, auf die er 1987 berufen wurde. 1994 wurde er zum Extraordinarius und 1997 zum Ordinarius bef?rdert.
Pr?sident für ein Jahr
Doch Ernst Hafen war nicht nur der Fliegenforscher oder Fliegendoktor, wie ihn sein Sohn Timothy auf die Frage der Lehrerin nach dem Beruf des Vaters bezeichnete. ?Ich war immer vielseitig interessiert, unter anderem auch an Hochschulpolitik?, sagt er. Als die ETH Zürich für den Ende 2004 abtretenden Pr?sidenten Olaf Kübler einen Nachfolger suchte, bewarb er sich und wurde für dieses Amt gew?hlt, das er am 1. Januar 2005 antrat. Seine Professur an der Uni Zürich gab er dafür auf.
Hafen erhielt vom ETH-Rat den Auftrag, die Hochschule nach angels?chsischem Vorbild zu reformieren. Doch dieses ambitionierte Reformprojekt stiess vor allem innerhalb der ETH-Professorenschaft auf grossen Widerstand - und scheiterte schliesslich. Damit beendete Hafen seine Pr?sidentschaft nach einem Jahr vorzeitig.
Noch einmal Fliegenforscher
Er blieb an der ETH und erhielt eine Professur am Institut für Molekulare Systembiologie, das von seinem ehemaligen Studienkollegen Ruedi Aebersold geleitet wurde. Noch w?hrend des Studiums hatten sich ihre Wege getrennt: Aebersold begann mit Proteinen zu arbeiten, Hafen mit Genen. Hafen trug jedoch einiges dazu bei, dass der Proteomiker in die Schweiz zurückkehrte und 2005 an der ETH Zürich dieses Institut übernehmen konnte.
Davon profitierte auch Hafen, der dadurch zu seiner Fliegenforschung zurückfand. Im Rahmen der von Aebersold initiierten Systembiologieinitiative ?SystemsX? führte er das Teilprojekt ?WingX? durch. Dessen Ziel war, herauszufinden, wie ein ganzes Genom zusammenspielt, um die Flügelgr?sse in einer natürlichen Population von Drosophila zu definieren. ?Mit diesem Projekt konnten wir erstmals mehr als nur die Wirkung einzelner Gene untersuchen, sondern das Zusammenspiel des gesamten Genoms, aller Gen-Transkripte und der darauf basierenden Proteine?, sagt Hafen. Etwas, was in dieser Detailfülle zuvor nicht m?glich war. ?Das war nur m?glich, weil ich an dieses Institut kommen und mit Ruedi Aebersold zusammenarbeiten konnte. Das war ein sch?ner Abschluss der Fliegen-Grundlagenforschung.?
Daten als neues Steckenpferd
Nach seinem Rücktritt als ETH-Pr?sident befasste sich Hafen zunehmend mit Fragen und Problemen, die mit seiner Fliegenforschung nichts mehr zu tun hatten: dem Umgang mit pers?nlichen (Gesundheits-)Daten.
Nicht nur die Forschung und die Medizin h?ufen immer mehr Daten über Genome, Gesundheit und Krankheit an, sondern auch jeder Einzelne: mit dem Aufkommen von Smartphones und Smartwatches, welche jederzeit K?rperfunktionen und Bewegung messen.
?Jeder von uns hat das Recht und die M?glichkeit mehr Gesundheitsdaten zu aggregieren und diese seinem Arzt und der Forschung zur Verfügung zu stellen, als dies Google jemals k?nnen würde.?Ernst Hafen
Er stellte jedoch fest, dass die Menschen die Aggregation (also das Zusammenführen) der eigenen Daten den Tech-Giganten überlassen. Dagegen k?mpft er an: ?Wir haben das Recht dazu, unsere Daten in geeigneter Weise selbst zusammenzuführen und nicht Google oder Facebook zu überlassen, die unsere Daten in klingende Münze umwandeln?, gibt er zu bedenken.
Hafen setzte sich deshalb dafür ein, ein paralleles Daten?kosystem unter der Kontrolle jedes Einzelnen aufzubauen. Als L?sung schlug er Datengenossenschaften vor, die die Rolle des Treuh?nders übernehmen. Diese Treuh?nder sammeln die Daten der Individuen, bereiten sie auf, machen sie interoperabel und pr?sentieren sie anonymisiert in einer Datenallmend. Die Datengenossenschaft regelt auch, ob und wie Firmen darauf zugreifen und – gegen Bezahlung –? davon profitieren k?nnen. Die Daten bleiben aber in der Allmend. ?Bürgerinnen und Bürger k?nnten dann aktiv selbst bestimmen, ob sie ihre Daten der Gesellschaft oder der Wirtschaft zur Verfügung stellen wollen?, erkl?rt Hafen.
Er gründete aufgrund seiner Erkenntnisse einen Verein, der sich für Datengenossenschaften einsetzt. Daraus wiederum ging tats?chlich eine Datengenossenschaft hervor, die ?Midata?. Der Verein ist mittlerweile aufgel?st, weil er seinen Zweck erfüllt hatte. Midata besteht nach wie vor, allerdings ?so erfolgreich, wie es mit beschr?nkten Mitteln m?glich ist?, sagt der ETH-Professor. Das Ziel, so sein Fazit, kam bei vielen CEOs und Politikern, mit denen er sprach, gut an. Aber niemand h?tte sich so richtig vorstellen k?nnen, wie es umgesetzt werden solle. Deshalb wollte auch niemand Geld dafür einsetzen. Hafen ist aber nach wie vor überzeugt: ?Die Daten-Genossenschaft ist die richtige Form.?
Gelungene Lehre weiterentwickeln
Nebst der Fliegen- und Datenforschung setzte sich Hafen stets für die Lehre ein. ?Anders als in der Forschung arbeitet man in der Lehre meist allein?, sagt Hafen. Auch gebe es kaum Vorbilder, h?chstens die Lieblingsprofessoren aus dem eigenen Studium, deren Unterrichtsstil man kopiere. Das wollte er ?ndern – was unter anderem in der Einführung des sogenannten Clickers mündete. Mit diesem K?stchen k?nnen Studierende direkt w?hrend der Vorlesung auf Fragen des Dozenten reagieren; der Dozent kann sofort überprüfen, wie viele richtige Antworten eingingen. Der Clicker macht grosse anonyme Vorlesungen interaktiver.
Die Einführung dieses Ger?ts war ein erster Schritt hin zu mehr Interaktivit?t im Unterricht und führte letztlich zur Gründung des ?Center for Active Learning?. Daraus gingen zahlreiche Initiativen zur Verbesserung der Lehre im Departement Biologie hervor. Mittlerweile sind die grossen Grundvorlesungen des Biologiestudiums mit Gruppenarbeiten, Selbststudium und Lernjournalen angereichert. ?Das war nur m?glich, weil wir ein Team von Profis, also promovierten Biologinnen und Biologen im Rahmen dieses Centers aufgebaut haben, das mit Biologie-Dozierenden auf Augenh?he diskutieren konnte. Dass es mir gelungen ist, in den vergangenen 15 Jahren dieses Center im D-BIOL aufzubauen und dass es nachhaltig wirkt, bereitet mir heute am meisten Freude?, resümiert er. Und bei diesem Projekt k?nne er sich durchaus vorstellen, über die Emeritierung hinaus weiter mitzuarbeiten.
Loslassen und in die Pedale steigen
Nun wartet auf den 65-j?hrigen aber erst mal ein Projekt, das nichts mit Wissenschaft zu tun hat. Nebst Fliegen und Daten gilt seine Faszination seit seiner Kindheit dem Velo. Er ist stolzer Besitzer von sechs Fahrr?dern und einem Tandem. In Gedanken ist er bereits bei seinem grossen Abenteuer, das er nach der Emeritierung am 31. Juli vorhat: eine Mountainbike-Tour auf dem Great Divide Trail, einem über 4400 Kilometer langen Bike-Trail in den kanadischen und amerikanischen Rocky Mountains; drei Monate wird er mit einem Freund und Kollegen dort wohl unterwegs sein. Das Material testeten die beiden schon auf Vorbereitungstouren in der Schweiz.
Ob er fit genug ist für die lange Tour? Im Moment sei er etwas ausser Form. Wegen der Homeoffice-Pflicht fehlten ihm die Kilometer, die er jeweils beim Pendeln mit dem Fahrrad von seinem Wohnort zum H?nggerberg zurückgelegt habe – t?glich rund 30 Kilometer. Nun muss er noch ins Training investieren. Was dem sportlichen Emeritus nicht schwerf?llt. Und: ?Die Form wird w?hrend einer solch langen Tour von Tag zu Tag besser. Wir müssen nur langsam starten.? Erfahrung mit langen Touren hat er bereits, denn vor drei Jahren durchquerte er die USA mit seiner Frau auf dem Tandem.