Im Gesundheitslabor der Zukunft
Rea Lehner leitet seit 2020 das Forschungsprogramm ?Gesundheitstechnologien der Zukunft? am Singapore-ETH Centre. Gemeinsam mit ihrem Team erarbeitet die ETH-Forscherin die Grundlagen, wie sich die Gesundheitsvorsorge durch digitale Technologien ver?ndern l?sst.
Die Bev?lkerung in Industriestaaten wird immer ?lter. Dies stellt die Gesundheitssysteme vor grosse Herausforderungen: Die Nachfrage nach Dienstleistungen steigt und kann immer weniger im Rahmen der bestehenden Infrastruktur und Ressourcen gedeckt werden. In vielen europ?ischen L?ndern haben Spit?ler und Kliniken bereits heute Mühe, geeignetes Personal zu finden. Die Belastung für ?rztinnen und Pfleger nimmt zu. Die Wartelisten für Rehabilitationszentren werden immer l?nger und die Gesundheitskosten steigen. Was also tun, damit die Gesundheitssysteme auch in Zukunft noch funktionieren?
?Wir werden nicht umherkommen, Patientinnen und Patienten vermehrt auch in ihrem Zuhause zu untersuchen, zu behandeln und zu betreuen?, erkl?rt Rea Lehner. Die 32-j?hrige Schweizerin ist seit M?rz 2020 als Programmmanagerin und Forscherin am Singapore-?ETH Centre t?tig. Sie ist dort gemeinsam mit ETH-Professorin Nicole Wenderoth für den Aufbau des neuen Forschungsprogramms ?Gesundheitstechnologien der Zukunft? verantwortlich. Ihr Ziel: die wissenschaftlichen Grundlagen für die dringend notwendige Transformation des Gesundheitswesens durch mobile, digitale Technologien zu erarbeiten.
Singapur als Vorreiter
In Sachen Gesundheitsversorgung ist Singapur ein Laboratorium für die Zukunft. ?Der Digitalisierungsgrad ist sehr hoch, und für viele Dienstleistungen kommen bereits heute Apps zum Einsatz. Daher k?nnen wir hier Projekte umsetzen, die anderswo noch nicht m?glich w?ren?, sagt Lehner über die Gesundheitsversorgung im Stadtstaat. So ist aktuell zum Beispiel eine Studie mit 3000 Singapuri im Gang, die untersucht, wie sich Stürze und Knochenbrüche frühzeitig erkennen und verhindern lassen. Mittels mobiler Sensoren und Algorithmen soll bestimmt werden, ob eine Person besonders sturzgef?hrdet ist und ein hohes Risiko aufweist, sich dabei einen Bruch zuzufügen. Basierend auf diesen Erkenntnissen werden dann massgeschneiderte kognitive und physische ?bungen zur Pr?vention entwickelt.
?Ein Projekt dieser Gr?ssenordnung ist nur durch eine sehr enge Kooperation mit den Gesundheitsbeh?rden und lokalen Partnern m?glich?, erkl?rt die ETH-Forscherin. Singapur bietet dafür sehr gute Rahmenbedingungen. Ob Kliniken, Universit?ten oder Beh?rden, die Akteure im Gesundheitswesen tauschen sich intensiv und kontinuierlich aus. ?Es herrscht hier eine sehr kooperative Kultur und auf Beh?rdenseite haben wir mit dem Office for Healthcare Transformation einen gut vernetzten Partner, der immer wieder Türen für uns ?ffnet?, sagt Lehner. Hinzu kommt, dass auch Singapuri ?lteren Semesters eher technologieaffin sind und wenig Berührungs?ngste haben, digitale mobile Anwendungen zu verwenden.
Wie Bewegung im Gehirn gesteuert wird
Als begeisterte Volleyballerin fragt sich Rea Lehner bereits in ihrer Jugend, wie Bewegungen vom Gehirn gesteuert werden. Um sich eingehender damit besch?ftigen zu k?nnen, entscheidet sie sich für ein Doppelstudium in Sport und Biologie an der Universit?t Bern. Für ihren Master wechselt die St. Gallerin an die ETH Zürich, wo sie Bewegungswissenschaften studiert und sich immer mehr mit neurowissenschaftlichen Themen besch?ftigt. Nach einem Forschungsaufenthalt am Trinity College in Dublin beginnt Lehner im April 2014 schliesslich ihr Doktorat an Nicole Wenderoths Lehrstuhl für neuronale Bewegungskontrolle.
Für Lehner sind es vier spannende und lehrreiche Jahre. In ihrer Dissertation untersucht sie den Einfluss von Belohnungen auf menschliches Verhalten. Sie zeigt unter anderem, dass Belohnung in Form von Geld die motorische Verlangsamung einer Bewegung wie zum Beispiel das Tippen des Zeige- und Mittelfingers signifikant reduziert.
Relevant ist dies zum Beispiel für rehabilitierende Schlaganfallpatienten, die in ihrem Training sehr repetitive Bewegungen ausführen müssen und dabei schnell ermüden. ?Durch die Belohnung werden die Patientinnen und Patienten ermutigt, die ?bungen l?nger zu machen, was sich wiederum positiv auf ihre Rehabilitation auswirkt?, erl?utert Lehner. Erkl?ren l?sst sich dieser Effekt durch eine ver?nderte neuronale Aktivit?t im motorischen System des Gehirns, welche durch die Belohnung ausgel?st wird.
Cybathlon als pr?gende Erfahrung
In ihrer Doktorarbeit greift Lehner immer wieder auf neurologische Untersuchungsmethoden wie die Magnetresonanztomografie oder die Elektroenzephalografie (EEG) zurück. Letztere wird sie auch bei einem Projekt einsetzen, das sie stark pr?gt und dem sie bis heute verbunden ist: dem Cybathlon. Dort treten Menschen mit k?rperlicher Behinderung unter Verwendung moderner Technologien in Wettk?mpfen gegeneinander an. Lehners Team arbeitet seit 2018 mit Samuel Kunz zusammen. Kunz ist querschnittsgel?hmt und an einen Rollstuhl gebunden.
?Unser Ziel war, dass Samuel in einem Computerspiel ein Auto nur mit seinen Gedanken steuert. Dafür haben wir die elektrische Aktivit?t seines Gehirns gemessen, darin Muster gesucht und diese in bestimmte Kommandos übersetzt?, erkl?rt Lehner. Obgleich sie und ihr Team mit dieser Methode beachtliche Erfolge erzielten, ist das Endergebnis letztlich ernüchternd: ?Eine nicht-invasive Methode wie die EEG liefert einfach zu schwache und ungenaue Signale. Um tats?chlich einen gel?hmten Menschen wie Samuel mit einem Rollstuhl, den er alleine mit seinen Gedanken steuert, auf die Strasse schicken zu k?nnen, ist noch viel Technologieentwicklung notwendig?, sagt Lehner.
Nichtsdestotrotz überwiegt bei Lehner die Begeisterung, wenn sie an den Cybathlon 2020 zurückdenkt: ?Wir haben neben dem technischen Wissen zu Gehirn-Computer-Schnittstellen sehr viel darüber gelernt, wie man Endnutzer von Anfang an in die Technologieentwicklung einbindet. Dies ist für meine Arbeit hier in Singapur entscheidend.?
Von der Forscherin zur Managerin
Am Singapore-?ETH Centre forscht Lehner vor allem zu massgeschneiderten Rehabilitationsverfahren für Schlaganfallpatienten. Diese T?tigkeit macht aber nur einen kleinen Teil ihrer Aufgaben aus, denn als Programmanagerin ist Lehner nicht mehr nur für ihre eigene Forschung verantwortlich: ?Aktuell komme ich selbst sehr wenig zum Forschen. Die Aufbauarbeit unseres Forschungsprogramms nimmt den gr?ssten Teil meiner Zeit in Anspruch.?
Dazu geh?rt neben der, sich w?hrend der Corona-Pandemie als sehr schwierig erweisenden Rekrutierung neuer Mitarbeitenden, auch die Führung eines internationalen Forschungsteams. Aktuell arbeiten 23 Angestellte im Rahmen des Programms Gesundheitstechnologien der Zukunft?. Zus?tzlich sind 12 ETH-Forschende und 22 lokale Partner beteiligt. ?Unser Team setzt sich aus ?rztinnen, Therapeutinnen, Ingenieurinnen, Psychologen, Softwareentwickler Biologinnen und Sozialwissenschaftlern zusammen. Trotz unterschiedlicher Perspektiven verfolgen wir alle das gleiche Ziel: neue Gesundheitstechnologien zu entwickeln und damit m?glichst vielen Menschen zu helfen?, sagt Lehner nicht ohne Stolz.
Die gr?sste Herausforderung für Rea Lehner liegt aber aktuell nicht im Bereich ihrer eigenen Forschung oder in der Personalführung, sondern im Umgang mit Gesundheitsdaten: Wie werden sensible Daten aus den Projekten sicher gespeichert und verarbeitet? Wie kann man sie den richtigen Personen zur Verfügung stellen, ohne dabei gleichzeitig den Datenschutz und Privatsph?re der Patienten zu kompromittieren. Es sind genau solche Fragen, die im Rahmen der voranschreitenden Digitalisierung westlicher Gesundheitssysteme unweigerlich auf uns zukommen. Rea Lehner wird darauf sehr gut vorbereitet sein.
?Gesundheitstechnologien der Zukunft?
Das Forschungsprogramm ?Gesundheitstechnologien der Zukunft? oder ?Future Health Technologies? (FHT) ist Teil des Singapore-?ETH Centre, das von der ETH Zürich und der Singapore National Research Foundation (NRF) gemeinsam getragen wird. Das Ziel des Programms ist die Entwicklung mobiler, digitaler Gesundheitstechnologien, welche die Grundlage für eine st?rker gemeinschafts- und patientenorientierte Gesundheitsversorgung dienen soll. Die Forschenden des FHT-Programms sind in vier Modulen t?tig: 1) Früherkennung von Gesundheitsrisiken und Pr?vention; 2) mobile Gesundheitsinterventionen; 3) Vernetzte Rehabilitation und unterstützende Technologien; 4) Verwaltung von Gesundheitsdaten.