Die Organisation der Zelloberfläche nutzbar machen
Forschende der ETH Zürich entwickelten eine neue Methode, mit der sie messen k?nnen, wie Proteine auf der Oberfl?che von Zellen organisiert sind. Mit der Technologie gewonnene Erkenntnisse k?nnten unter anderem zur Entwicklung neuartiger Krebsmedikamente führen.
Biologische Zellen haben vielf?ltige Funktionen, und sie müssen miteinander kommunizieren, um diese aufeinander abzustimmen. Zentral dafür sind Moleküle an der Zelloberfl?che. Seit Jahrzehnten untersuchen Biologen solche Oberfl?chenproteine. Zunehmend wird dabei klar, dass für die Funktion einer Zelle nicht nur entscheidend ist, welche Proteine auf einer Zelle vorhanden sind, sondern auch, wie diese auf der Zelloberfl?che organisiert sind.
?Proteine sind nicht einfach gleichm?ssig und unabh?ngig voneinander auf der Zelloberfl?che verteilt, sondern in Molekülgesellschaften organisiert. In diesen Gesellschaften übernehmen die Proteine Zellfunktionen oft gemeinsam?, erkl?rt Bernd Wollscheid, Professor am Institut für translationale Medizin an der ETH Zürich. Zusammen mit einem grossen interdisziplin?ren Team, dem auch andere Forschende der ETH Zürich sowie von weiteren Institutionen angeh?ren, hat Wollscheids Doktorand Maik Müller nun eine Technologie entwickelt, mit welcher die Organisation von Zelloberfl?chenmolekülen erfasst werden kann.
?Küsschen verteilen?
Mit der LUX-MS genannten Methode k?nnen die Forschenden mit einer Pr?zision im Nanometerbereich ermitteln, wie Proteine an der Zelloberfl?che in eine Organisation eingebunden sind, konkret: welche Proteine eng benachbart sind. Für einzelne Proteine, die stark miteinander wechselwirken, konnten Wissenschaftler schon bisher Wechselwirkungen nachweisen, ebenso für Moleküle im Zellinneren. Die neue Methode ist allerdings die erste, mit der Wissenschaftler die Organisation der Gesamtheit aller Zelloberfl?chenmoleküle gezielt erfassen k?nnen. Wollscheid spricht bei dieser Gesamtheit vom ?Surfaceom?. Der Begriff setzt sich zusammen aus Surface, dem englischen Wort für Oberfl?che, und der Endung -om, die auch bei Begriffen wie Genom oder Proteom benutzt wird.
Das Prinzip der Methode erkl?rt Wollscheid mit einem Augenzwinkern wie folgt: ?Wir ver?ndern ein bestimmtes Oberfl?chenmolekül gezielt so, dass es Küsschen verteilt, und schauen dann, welche anderen Moleküle Spuren von Lippenstift abbekommen haben.? Im nicht-übertragenen Sinn handelt es sich dabei um das Anh?ngen einer kleinen chemischen Verbindung, welche bei Bestrahlung mit Licht geringe Mengen an sogenannt reaktiven Sauerstoffmolekülen herstellt. Oberfl?chenproteine, die sich in der N?he befinden, werden dabei von den reaktiven Sauerstoffmolekülen oxidiert. Mittels einer bestimmten Anreicherungsmethode und Massenspektrometrie in Kombination mit statistischer Datenanalyse k?nnen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dann erkennen, welche Moleküle oxidiert worden sind.
Um die Distanz des Zielmoleküls von anderen Molekülen zu bestimmen, wiederholen die Forschenden ihre Experimente unter leicht ver?nderten Bedingungen, welche die Menge und ?berlebenszeit der reaktiven Sauerstoffmoleküle beeinflussen. Dazu geh?ren die L?nge der Bestrahlung mit Licht und die Wahl des N?hrmediums, in welchem sie die Zellen halten. Je mehr und je l?nger reaktiver Sauerstoff lokal gebildet wird, desto ausgedehnter ist der Bereich, in welchem die Oberfl?chenmoleküle markiert werden.
Zielgerichtetere Medikamente gegen Krebs
Wollscheid und seine Kollegen werden die Technologie nun nutzen, um Zellen von gesunden Personen zu vergleichen mit solchen von kranken Personen. ?Es geht darum zu verstehen, was sich auf Zell-Ebene in der Organisation der Proteine in einer Krankheit ver?ndert, zum Beispiel bei der Entartung einer gesunden Zelle zu einer Krebszelle?, sagt Wollscheid. Die Wissenschaftler sind dabei, eine Referenzkarte von gesunden Zellen zu erstellen. Diese m?chten sie dann nutzen, um Unterschiede in der Organisation von Proteingesellschaften auf der Oberfl?che von Zellen im kranken Zustand zu erkennen.
Zu wissen, welche Moleküle auf Zelloberfl?chen neben welchen liegen und wie sie organisiert sind, k?nnte zum Beispiel für die Entwicklung von neuartigen Krebsmedikamenten bedeutend werden. In modernen Krebsmedikamenten ist oft ein zellabt?tender Wirkstoff gekoppelt mit einem Antik?rper, der ein Oberfl?chenmolekül erkennt, das auf Krebszellen geh?uft vorkommt. Krebszellen werden damit einigermassen spezifisch abget?tet. Weil viele der dieser Krebs-typischen Oberfl?chenmoleküle in geringerer Konzentration auch in gesunden Zellen vorkommen, t?ten solche Medikamente auch einige gesunde Zellen ab.
Würde sich herausstellen, dass zwei Moleküle nur in einer entarteten Zelle nebeneinander liegen, nicht jedoch in einer gesunden Zelle, k?nnte man Medikamente entwickeln, welche diese beiden Moleküle gemeinsam erkennen. Das Medikament würde dann eine Zelle nur abt?ten, wenn beide Moleküle vorhanden sind und diese auch nebeneinander vorkommen. Genau diese Information liefert die neue Technologie.
Breite Anwendungen
Im Rahmen der Studie haben die Wissenschaftler ausserdem gezeigt, dass mit der Methode nicht nur untersucht werden kann, welche Zelloberfl?chenmoleküle neben welchen liegen. Sie haben auch Viren und Medikamente mit der kleinen chemischen Verbindung markiert, welche reaktiven Sauerstoff produziert. So k?nnen die Forschenden untersuchen, wo auf der Zelle ein Virus oder ein Wirkstoffmolekül andockt. Ausserdem ist es mit der Methode m?glich zu untersuchen, über welche Proteingesellschaften zwei unterschiedliche Zellen miteinander wechselwirken. Die Wissenschaftler haben das am Beispiel der Kommunikation von Immunzellen gezeigt. ?Auf diese Weise kann die neue Methode helfen zu verstehen, wie Medikamente wirken und wie Viren oder Immunzellen andere Zellen erkennen?, sagt ETH-Doktorand Müller. ?Die Methode ist daher von grossem Nutzen für die Forschung an Hochschulen und in der Industrie.?
Entwickelt und getestet haben Müller und Wollscheid die neue Methode in interdisziplin?rer Zusammenarbeit. An der in der Fachzeitschrift ?Nature Communications? ver?ffentlichten Studie arbeiteten die ETH-Professoren und -Professorinnen Martin Loessner, Annette Oxenius, Jeffrey Bode, Erick Carreira und Berend Snijder mit. Ebenfalls beteiligt waren Forschende der Universit?t Zürich, der University of Michigan sowie einer amerikanischen Wirkstoffsentwicklungsfirma. Die Wissenschaftler haben die neue Technologie in eine Spin-off Firma überführt, welche die Technologie nun nutzen m?chte, um neue Medikamente nicht nur gegen einzelne Proteine, sondern gegen ganze Proteingesellschaften zu entwickeln.
Literaturhinweis
Müller M, Gr?bnitz F, Barandun N, Shen Y, Wendt F, Steiner SN, Severin Y, Vetterli SU, Mondal M, Prudent JR, Hofmann R, van Oostrum M, Sarott RC, Nesvizhskii AI, Carreira EM, Bode JW, Snijder B, Robinson JA, Loessner MJ, Oxenius A, Wollscheid B: Light-mediated discovery of surfaceome nanoscale organization and intercellular receptor interaction networks, Nature Communications, 2. Dezember 2021, doi: externe Seite 10.1038/s41467-021-27280-x
Bausch-Fluck D, Milani ES, Wollscheid B: Surfaceome nanoscale organization and extracellular interaction networks, Current Opinion in Chemical Biology 2019, 48: 26, doi: externe Seite 10.1016/j.cbpa.2018.09.020