Kompost in Nairobi

Manuel Mathis erinnert sich noch genau: Am Gymnasium im Fach Humangeografie erz?hlte der Lehrer davon, dass mehrere hundert Millionen Menschen t?glich hungrig zu Bett gehen, unter anderem weil ihre B?den erodieren und zunehmend weniger fruchtbar sind. Das hat beim Sch¨¹ler einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Fortan wusste er, dass er etwas studieren wollte, womit er einen Beitrag gegen Hunger und Armut leisten konnte. Er schrieb sich an der ETH ein und begann 2015 ein Studium in Agrarwissenschaften. Dort wurden ihm enorme Mengen an theoretischem Wissen zu Boden-Pflanzen-Systemen vermittelt. Was ihm etwas zu kurz kam, war die Praxis: das W¨¹hlen in der Erde. Deshalb begann er im Oktober 2020, neben dem Studium auf einer Kompostierungsanlage in Fehraltdorf zu arbeiten. ?Diese praktische Erfahrung kommt mir heute sehr zugute?, sagt der 25-j?hrige Student w?hrend eines Zoom-Calls Ende September. Er sitzt im Wohnzimmer seines Studios im Zentrum Nairobis und wirkt etwas mitgenommen. Zum wiederholten Male leidet er an einer gr?beren Magenverstimmung. ?Eine nat¨¹rliche Nebenerscheinung meines Jobs hier?, sagt er. ?Dieser bringt mich ziemlich eng mit allerlei ungewohnten Viren und Bakterien in Kontakt.?

Anf?ngliches Chaos

Mathis arbeitet seit Mai auf der Kompostieranlage von ?Takataka Solutions?, einem privatwirtschaftlichen Recyclingunternehmen in Nairobi, der Hauptstadt Kenias. T?glich f?hrt er mit einem weissen Nissan Kombi vom Stadtzentrum zwanzig Minuten an die Peripherie, wo die 8000 Quadratmeter grosse Kompostanlage liegt. Geplant war, dass Mathis dort im Rahmen des Berufspraktikums seines Masterstudiums dabei hilft, ein kleines Labor aufzubauen, damit die Mitarbeitenden pH-, Ammonium-, und Nitratgehalt des Komposts besser kontrollieren k?nnen. Alles wichtige Indikatoren f¨¹r eine hohe Kompostqualit?t. Doch es kam anders: ?Bei meiner Ankunft herrschte ein riesiges Chaos?, erz?hlt Mathis. ?Die ganze Anlage war mit frischem organischem Abfall ¨¹berf¨¹llt, das Material stapelte sich und wurde nicht mehr zu Kompost verarbeitet.? Wie er erfuhr, waren die meisten Arbeiter und Arbeiterinnen soeben wegen Diebstahl entlassen worden. Der langj?hrige Leiter der Anlage war ¨¹berfordert und im Urlaub. Mathis blieben zwei neue Arbeiterinnen ohne Erfahrung und ein Traktorfahrer, der die Anlage schon l?nger kannte. Dieser war jedoch vor allem damit besch?ftigt, die R?der des einzig verf¨¹gbaren Traktors zu reparieren, die st?ndig wieder kaputtgingen. ?Alle haben damals einen Bogen um das Areal gemacht, weil es dermassen gestunken hat?, erinnert sich Mathis.

Nach dem ersten Schock begann der Student, die Lage zu analysieren. Er erkannte zwei Flaschenh?lse: die Wirtschaftlichkeit und die Infrastruktur. Einerseits war die Qualit?t des Komposts so schlecht, dass ehemalige K?ufer, vor allem gr?ssere Vertriebe von Agrarprodukten, dem Recyclingunternehmen nach eigenen Laboranalysen den R¨¹cken gekehrt hatten. Dadurch blieb auch der verarbeitete Kompost (Humus) liegen und die Anlage warf keinen Gewinn mehr ab. Mathis ¨¹berzeugte den Firmengr¨¹nder, einen Philosophen mit deutschem Pass, der in Nairobi aufgewachsen ist, neue R?der f¨¹r den alten Traktor zu kaufen und gleichzeitig einen zus?tzlichen Traktor aus China zu ordern. Nur so w¨¹rde es ¨¹berhaupt m?glich sein, den sich t¨¹rmenden Abfall in sogenannten Mieten, langen Reihen von 1,5 Metern H?he, auszulegen, damit der kontrollierte Zersetzungsprozess beginnen kann. Eine weitere Investition betraf ein neues Sieb, damit der Kompost schneller und besser f¨¹r den Verkauf aufbereitet werden kann.

Gleichzeitig baute sich Mathis in k¨¹rzester Zeit ein neues Team auf, das bis im November auf 20 Mitarbeitende angewachsen war. Auf der Kompostierungsanlage sind sie vor allem daf¨¹r zust?ndig, den organischen Abfall von Verunreinigungen zu befreien ¨C von alten Batterien, Plastik, Metallteilen. Mathis war von Beginn an auf eine gute Zusammenarbeit mit den ungelernten Arbeiterinnen und Arbeitern angewiesen, die auf der Anlage ein moderates Einkommen von 100 Dollar pro Monat erwirtschaften. ?Ein Team zu f¨¹hren und dieses zu motivieren, habe ich vor allem w?hrend zehn Jahren Jugendarbeit in der Kirche gelernt?, erz?hlt er.

Coaching mittels Whatsapp

Wenige Wochen nach seiner Ankunft in Nairobi koordinierte Mathis das gesamte Team, schrieb Arbeitspl?ne und managte gemeinsam mit dem Traktorfahrer die t?glichen Arbeiten auf der Anlage. Unterst¨¹tzung erhielt er dabei auch aus der Schweiz: Jacques Fuchs ist ein Freund der Familie, der in den 1980er Jahren ebenfalls Agrarwissenschaften an der ETH studiert hatte. Nach einem Doktorat in der Gruppe f¨¹r Pflanzenpathologie spezialisierte er sich auf Kompostierung. Heute ber?t er Kompostprojekte auf der ganzen Welt; darunter auch ?Takataka Solutions?. So kam auch der Kontakt zwischen Mathis und Kenia urspr¨¹nglich zustande. ?Gerade zu Beginn habe ich Jacques oft w?hrend der Arbeit mitten auf der Kompostanlage per Whatsapp um technischen Rat angefragt?, erz?hlt Mathis. Er war selbst ein wenig ¨¹berrascht, wie gut das ging und wie verbreitet das Internet in Kenia mittlerweile ist.

Mitte Juli reiste Fuchs f¨¹r eine Woche nach Nairobi und half Mathis, die Prozesse und Infrastruktur f¨¹r einen erfolgreichen Betrieb der Anlage weiter auszuarbeiten. Auf Nachfrage sagt er: ?Die Kompostierung hat in Kenia und generell in afrikanischen L?ndern ein enormes Potenzial zur Ertragssteigerung.? Das liege einerseits am Klima, andererseits daran, dass viele B?den bislang kaum ged¨¹ngt werden. Zudem sch¨¹tze ein gesunder, n?hrstoffreicher Boden Pflanzen auch vor allerlei Krankheiten.

An Rohstoffen f¨¹r die Humusproduktion mangelt es nicht. Laut Regierungsangaben werden in Kenia t?glich 22?000 Tonnen Abfall produziert. Ein immer gr?sserer Anteil stammt aus den rasch wachsenden St?dten. Die Regierung geht davon aus, dass die Stadtbev?lkerung bis 2030 j?hrlich rund 5,5 Millionen Tonnen Abfall produzieren wird. Das sind dreimal so viel wie im Jahr 2009. Der meiste Abfall landet heute auf offenen Deponien am Stadtrand. Oder er wird direkt von den Haushalten verbrannt. Beides ist gesundheitssch?dlich und macht ?kosysteme kaputt. Doch 60 bis 70 Prozent des Abfalls sind organisch und w?ren somit kompostierbar. Das Potenzial f¨¹r die Produktion von Humus ist insofern riesig und das Gesch?ftsmodell von ?Takataka Solutions? vielversprechend.

Googeln und improvisieren

Nach f¨¹nf Monaten harter Arbeit ist die einst vernachl?ssigte Anlage laut Mathis wieder rentabel. Aktuell produziere sein Team rund 90 Tonnen Humus pro Monat, was ausreiche, um 1000 Hektar Land (oder 50 mittelgrosse Farmen) mit Humus zu versorgen. Der ?Break-even? f¨¹r den Betrieb der Anlage liege bei etwa zwei Drittel der aktuell produzierten Menge. Mathis lud potenzielle Kunden auf die Anlage ein und besuchte Landwirtschaftsmessen, um f¨¹r sein Produkt zu werben. Mittlerweile hat er wieder erste Abnehmer. Damit ?Takataka Solutions? diesen k¨¹nftig eine konstante Humusqualit?t garantieren kann, f¨¹hrte Mathis regelm?ssige Kontrollen ein. Von jeder Kompostmiete wird heute ein Temperaturprotokoll gef¨¹hrt. Kompost kann zu Beginn bis 80 Grad Celsius heiss werden, bei 45 Grad Celsius ist der Humus normalerweise reif f¨¹r den Gebrauch. Der Feuchtigkeitsgehalt wird ebenfalls regelm?ssig kontrolliert. Wenn der Kompost tropft, ist er zu feucht. Wenn er br?selt, zu trocken. F¨¹r die Bew?sserung wurde deshalb ein Wassertank mit Schlauch angeschafft. Mathis baute auch ein Labor auf, wof¨¹r er mit den Mitarbeitenden eine kleine Baracke zimmerte. Die Sch¨¹ttelmaschine f¨¹r die Probenaufarbeitung musste er mit verf¨¹gbaren Materialien selbst konstruieren. ?Was ich an der ETH vor allem gelernt habe, ist, mir Dinge selbst anzueignen?, sagt Mathis. In den letzten Monaten habe er sich das n?tige Wissen oft stundenlang ?angegoogelt? und dann einfach get¨¹ftelt und experimentiert.

Im Juli bat ihn der Gr¨¹nder und CEO von ?Takataka Solutions? darum, sein Praktikum um drei Monate zu verl?ngern. Bis Ende Jahr wird Mathis nun Fidelis Mutie Muendo, einen Agrarwissenschaftler aus Kenia, einarbeiten, der die Leitung der Kompostieranlage ¨¹bernehmen wird. Gleichzeitig hilft er ?Takataka Solutions? bei der Planung einer zweiten Kompostierungsanlage in Mombasa, der zweitgr?ssten Stadt an der K¨¹ste zum Indischen Ozean. Das Unternehmen mit 400 Mitarbeitenden w?chst rasant und will seine Dienste bald auch in anderen ostafrikanischen L?ndern anbieten.

?Eigentlich g?be es hier gen¨¹gend Arbeit f¨¹r ein weiteres Jahr?, sagt Mathis und lacht. Doch Ende Dezember ist Schluss. Dann zieht der Student weiter nach Bukavu, eine Stadt im ?stlichen Grenzgebiet der Demokratischen Republik Kongo. Dort wird er im Rahmen des Forschungsprojekts ?RUNRES? von Johan Six, ETH-Professor f¨¹r nachhaltige Agrosysteme, f¨¹r seine Masterarbeit forschen. Mathis¡¯ Ziel: Nach L?sungen suchen, wie kongolesische Konsumenten und Konsumentinnen f¨¹r die Abfalltrennung sensibilisiert und motiviert werden k?nnen. Je besser n?mlich die anf?ngliche Abfalltrennung funktioniert, desto h?her ist die End?qualit?t des Humus. Das weiss er nun aus ganz praktischer Erfahrung.