Mit Blick auf die Uhr

Sportlich beginnt der Tag der jungen Gr¨¹nderin Leonie Fl¨¹ckiger. Mit Musik im Ohr joggt sie in moderatem Tempo durch die Stadt. Sie trainiert f¨¹r ihren ersten Marathon. Am Handgelenk tr?gt sie eine Smartwatch. Nur f¨¹r den Sport, wie sie l?chelnd versichert. Sonst muss es eine mechanische Uhr sein ¨C von einem Schweizer Hersteller, versteht sich. Durch ihr Studium von Mikro- und Nanosystemen weiss Fl¨¹ckiger die pr?zise Handarbeit zu sch?tzen, die die Herstellung eines Uhrenantriebs verlangt. Schon bevor sie mit ihrem Start-up in die Uhrenindustrie eingestiegen ist, hatte sie ein Flair f¨¹r Uhren. Zum Abschluss ihres Studiums an der ETH leistete sie sich eine Armbanduhr. F¨¹r die ETH-Alumna ist die Uhr mehr als ein Modeaccessoire. Sie ist ein Symbol f¨¹r das Erfolgsgef¨¹hl und die Genugtuung, ein schwieriges, technisches Studium gemeistert zu haben.

Urspr¨¹nglich war es nicht Fl¨¹ckigers Plan, einen technischen Studiengang zu absolvieren. Sie wollte stattdessen Kunst studieren. In ihrer Matura-Arbeit setzte sie sich mit von der Natur inspirierter Mode auseinander. Dabei studierte sie verschiedene Oberfl?chenstrukturen, die in der Natur vorkommen, und ¨¹berlegte, wie diese auf Textilien angewendet werden k?nnten. Ein klassisches Beispiel aus der Bionik, die in der Natur vorkommende Ph?nomene untersucht und f¨¹r die Technik nutzbar macht. Ihre Studienberaterin legte ihr die ETH nahe, da es dort eine Studienrichtung gibt, die sich mit Oberfl?chen und Materialien auseinandersetzt. Die wissbegierige Maturandin besuchte den Info-Tag und blieb an einem Posten der Materialwissenschaften h?ngen, an dem man einen Marshmallow in Trockeneis gefrieren konnte. Beim Erz?hlen gl?nzen die blauen Augen von Fl¨¹ckiger heute noch vor Begeisterung. ?Dieses Erlebnis und die Aussicht, selbst im Labor etwas Praktisches machen zu k?nnen, waren schlussendlich ausschlaggebend, dass ich Materialwissenschaften an der ETH studiert habe?, sagt sie. Trotzdem habe es eine Portion Mut gebraucht, als Frau an eine technische Universit?t zu gehen. Bereut hat sie ihre Entscheidung nicht. Obwohl das Basisjahr sehr mathematiklastig und zeitweise trocken war, begann ihr das Studium im weiteren Verlauf richtig Spass zu machen.

Gerne w¨¹rde Fl¨¹ckiger ihr kreatives Talent in Zukunft noch mehr in ihren technischen Beruf integrieren, und sie ist sich sicher, dass dies m?glich sein wird. Durch ihren Hintergrund an der ETH betrachtet sie Kunst heute aus einem v?llig neuen Blickwinkel. ?Mich hat schon immer alles zum Thema Optik interessiert. An der ETH habe ich gelernt, wieso wir eine Farbe als Rot wahrnehmen, warum Metall gl?nzt oder wie eine Camera obscura funktioniert. Die Physik hinter solchen optischen Ph?nomenen zu verstehen, fasziniert mich total?, erz?hlt sie begeistert. F¨¹r ihr Masterstudium vertiefte sie sich in den Bereich Nano- und Mikrosysteme.

Zum einen setzte sie sich mit Nanorobotern auseinander, die in der Medizin zur Behandlung von Tumoren eingesetzt werden. Sie werden dem Patienten gespritzt und erkennen, wo die Tumorzellen im K?rper sitzen, und bewegen sich eigenst?ndig zur Behandlung an die betroffene K?rperstelle. Aber mit der Robotik r¨¹ckten auch immer mehr IT-Themen in den Forschungsbereich von Fl¨¹ckiger. Pl?tzlich gab es in der IT-Szene nur noch ein Thema: Blockchain. ?Alle haben dar¨¹ber?gesprochen und ich habe gar nichts verstanden. Anfangs habe ich mir gedacht, dass mein Zug schon abgefahren ist und ich die Blockchain niemals verstehen werde. Das ist erst zwei Jahre her. Dann gewann ich bei ETH Juniors das Projekt zu Blockchain. Zu diesem Zeitpunkt war mir immer noch nicht klar, wie es genau funktioniert. Ich begann, mich einzulesen. Es hat mich richtiggehend gepackt, sodass ich sogar meine Masterarbeit dar¨¹ber geschrieben und schliesslich sogar das ETH-Spin-off-Label bekommen habe?, erz?hlt die junge Gr¨¹nderin. Wer h?tte damals bei den ersten Gespr?chen ¨¹ber Blockchain gedacht, dass die heute 27-J?hrige einmal eine Firma gr¨¹nden w¨¹rde, die genau auf dieser Technologie basiert?

Sinn f¨¹r Business und Unternehmergeist zeigte Fl¨¹ckiger schon fr¨¹h. Bereits w?hrend des Studiums arbeitete sie bei den ETH Juniors, einer von ETH-Studenten gef¨¹hrten Unternehmensberatung, die Firmen mit passenden Fachkr?ften von der ETH zusammenf¨¹hrt. Zu ihren Kunden z?hlten Schweizer KMU, aber auch Grossfirmen wie die Helvetia Versicherung. Diese kam mit einem Projekt auf sie zu, in dem sie die Blockchain-Technologie nutzen wollte, um mehr Sicherheit in die Uhrenindustrie zu bringen. Die Versicherungsgesellschaft hatte festgestellt, dass auf dem Second-Hand-Uhrenmarkt ein grosses Vertrauensdilemma herrschte. Oft war unklar, woher die Uhr stammte und ob sie ¨¹berhaupt echt war. Ein internes Innovationsteam hatte erkannt, dass dieses Vertrauensproblem mit der Blockchain l?sbar w?re. Die Idee f¨¹r Adresta war geboren. ?Zusammen mit Mathew Jobin Chittazhathu und Nicolas Borgeaud aus dem Helvetia Innovationsteam gr¨¹ndete die ETH-Absolventin ihre erste Firma. Heute arbeiten nebst den drei Gr¨¹ndern bereits sieben Mitarbeiter in dem Unternehmen, das digitale Echtheitszertifikate f¨¹r die Uhrenindustrie herstellt. Standorttechnisch sind sie gut aufgestellt, denn 99 Prozent aller Luxusuhren werden in der Schweiz produziert. Das ehrgeizige Ziel der Firma ist es, dass in Zukunft kein Luxusprodukt mehr ohne einen digitalen Zwilling verkauft wird. Das Echtheitszertifikat ist Teil dieses digitalen Zwillings, aber auch andere Dokumente zum Produkt wie zum Beispiel Bedienungsanleitungen oder Garantiescheine k?nnen dort abgespeichert werden. Ausserdem kann mit diesem System der rechtm?ssige Besitzer der Luxusg¨¹ter belegt werden. Sollte Adrestas Software zum Standard in der Industrie werden, k?nnten damit F?lschungen auf dem Uhrenmarkt massiv reduziert werden.

Das Umfeld der Gr¨¹nder, speziell die Tech-Szene, wird immer noch von M?nnern dominiert. Als Frau in einem technischen Beruf und als Firmengr¨¹nderin ist Fl¨¹ckiger eher die Ausnahme als die Regel. Mit ihrem Werdegang will die sportliche CTO anderen Frauen Mut machen. Schon als Kind spielte sie Schlagzeug und war 15 Jahre im Fussball-Club. Anstatt sich von ihren m?nnlichen Studienkollegen einsch¨¹chtern zu lassen, nahm sie sich deren Ehrgeiz und Mut zum Vorbild. Das hat sie in ihrem Leben schon weit gebracht. ?Junge Frauen brauchen starke weibliche Vorbilder, die zeigen, dass es cool ist, an der ETH zu studieren, und dass sie das schaffen k?nnen?, sagt sie bestimmt. Schon w?hrend des Studiums hat sie an Gymnasien die Materialwissenschaften vorgestellt, um junge Frauen daf¨¹r zu begeistern. Als Frau einen ETH-Abschluss vorweisen zu k?nnen, verschafft ihr bei M?nnern in der Gr¨¹nderszene Ansehen, Glaubw¨¹rdigkeit und Respekt. F¨¹r sie ist es mehr ein Leistungszeugnis, auf das sie stolz sein kann. ?ber Netzwerke wie ?We shape Tech? oder ?Woman in Tech? findet sie Frauen, von denen sie lernen kann, weil sie den Weg schon vor ihr gegangen sind. Ab und zu trifft man sich zum Kaffee. Dieser Austausch ist f¨¹r die junge Firmengr¨¹nderin anregend und motivierend. Deswegen ist es ihr auch ein Anliegen, dass sie selbst einmal f¨¹r junge Frauen ein Vorbild sein kann.