Ohne Tierversuche geht es nicht
Die ETH Zürich und die anderen Schweizer Hochschulen engagieren sich, um Stress und Leid von Versuchstieren zu verringern. Ein Verbot von Tierversuchen, wie es eine im Februar zur Abstimmung kommende Volksinitiative fordert, würde aber den medizinischen Fortschritt verunm?glichen.
Johannes Bohacek versucht sorgf?ltig, eine Maus in einem K?fig in eine Plexiglasr?hre zu schubsen. Der ETH-Professor ist Stressforscher und untersucht dazu M?use. Neben seiner Hauptforschungst?tigkeit arbeitet er an einer kleinen ETH-Studie mit, in der es um diese Plexiglasr?hren geht. Normalerweise greifen Tierversuchsdurchführende eine Maus n?mlich am Schwanz, um sie von einem K?fig in einen anderen zu versetzen. Das kann eine Maus leicht stressen, wie heute bekannt ist. In einer kleinen Studie untersucht die ETH daher, wie praktikabel es ist, M?use stattdessen mithilfe einer R?hre hochzuheben.
Dies ist nur ein Beispiel, wie Forschende versuchen, Belastung und Stress von Versuchstieren zu verringern. ?Der Umgang mit Tieren in der Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt?, sagt Annamari Alitalo, Leiterin Tierschutz an der ETH Zürich. Man k?nne sich Forschungsprojekte aus den 1980er-Jahren anschauen. Viele der damaligen Versuche würden heute gar nicht mehr bewilligt, sagt sie. Heute werden Versuche achtsamer geplant, die Bewilligungspraxis ist strenger geworden, und Labortierkunde ist ein eigener Wissenschaftsbereich, der sich in den vergangenen Jahren stark weiterentwickelt hat. Das Wissen zu Labortieren ist heute gr?sser und das kommt ihnen zugute.
Ein Beispiel ist die Schmerzausschaltung, die heute einen hohen Stellenwert geniesst, wie Alitalo betont. Geh?rt zu einem Tierversuch eine chirurgische Operation, wird die An?sthesie professionell geplant. Und bei Versuchen, die mit Schmerzen oder anderen Belastungen verbunden sind, ist von vornherein klar geregelt, wann ein Versuch abgebrochen werden muss. Alle Personen, die in der Schweiz Tierversuche durchführen, brauchen eine Ausbildung und besuchen regelm?ssige Weiterbildungen. Wie man bei Labortieren Schmerz erkennt, ist da zum Beispiel ein Thema.
Neue Methoden, um Tierversuche zu ersetzen
An der ETH und anderswo entwickeln Forschende unter dem Stichwort 3R (replace, reduce, refine) neue Ans?tze, um Tierversuche durch andere Methoden zu ersetzen, sie mit weniger Tieren durchzuführen oder die Tiere m?glichst wenig zu belasten. Wo immer es m?glich und sinnvoll ist, beantworten Forschende ihre Fragen mit alternativen Methoden, beispielsweise nutzen sie Zellen oder Organoide – dreidimensionale Zellverb?nde in der Petrischale. In der Alterungsforschung kommen an der ETH wann immer m?glich statt M?use Fadenwürmer zum Einsatz. Letztere haben ein sehr primitives Nervensystem, und die Arbeit mit ihnen gilt in der Schweiz nicht als Tierversuch.
Dennoch lassen sich Tierversuche nur beschr?nkt durch alternative Methoden ersetzen, wie neben Alitalo auch ETH-Professor Bohacek betont. Um komplexe Organe wie das Gehirn oder das Zusammenspiel verschiedener Organe zu untersuchen, bleiben Forschende noch in vielen Fragestellungen auf Tiere angewiesen. Viele Fragestellungen zu Stoffwechselst?rungen, Infektionskrankheiten oder das Zusammenspiel von Darmflora und K?rper lassen sich nur in einem lebenden Organismus erforschen.
?Oft h?re ich das Argument, man k?nne neurologische Forschung auch mit Hirnmodellen am Computer durchführen?, sagt Bohacek. ?Davon sind wir aber meilenweit entfernt.? Die Komplexit?t des Gehirns übersteigt bei Weitem alles, was wir heute am Computer berechnen k?nnen. ?Wenn eine wichtige Forschungsfrage nicht mit Ersatzmethoden beantwortet werden kann, muss man sie mithilfe von Tierversuchen angehen?, sagt auch Detlef Günther, Vizepr?sident für Forschung der ETH Zürich. Und das werde sich auch l?ngerfristig nicht ?ndern.
Qualit?t und Aussagekraft der Versuche erh?hen
Bohacek und Alitalo sehen vor allem einen Weg, die Zahl an Tierversuchen zu reduzieren: die Qualit?t und die Aussagekraft der einzelnen Versuche zu erh?hen. Liefert ein einzelner Versuch mehr Daten und sind die Messungen pr?ziser und ihr Streubereich enger, braucht es insgesamt weniger Versuche und Tiere. Bohacek entwickelt derzeit zum Beispiel neue rechnergestützte Methoden, mit denen klassische Verhaltenstests von M?usen genauer ausgewertet werden k?nnen: Er analysiert den Aufenthalt von M?usen in einem Gehege mithilfe von Bildanalyse und künstlicher Intelligenz. ?Wir erhalten auf diese Weise pr?zisere Aussagen dazu, wie ?ngstlich ein Tier ist, als wenn wir dasselbe mit dem menschlichen Auge und von Hand auswerten?, sagt der ETH-Professor.
Obschon heute alles getan wird, um die Anzahl der Tierversuche zu reduzieren und das Leid von Versuchstieren m?glichst zu vermeiden, geht es nicht in allen F?llen ohne. ?Wenn ich Stresserkrankungen im Tiermodell erforsche, geh?rt etwas dazu, das alles andere als sch?n ist: Ich muss die Tiere stressen?, erkl?rt Bohacek. Weder er noch irgendein anderer Forscher, den er kenne, mache gerne Tierversuche, doch er sehe darin eine zwingende Notwendigkeit.
3,5 Prozent geh?ren zum h?chsten Schweregrad
Ein Beispiel eines Stressfaktors, den Bohacek einsetzt: M?use müssen sechs Minuten lang im kalten Wasser schwimmen. Sie k?nnen das, m?gen es aber überhaupt nicht, und schütten dabei dieselben Hormone und Neurobotenstoffe aus wie Menschen in stressigen Situationen.
In der Schweiz werden Tierversuche in vier Schweregrade eingeteilt. Von den gut 30'000 an der ETH in Tierversuchen eingesetzten Tiere pro Jahr (siehe Tabelle) sind 3,5 Prozent der h?chsten Stufe zugeordnet. Dazu geh?ren auch die Schwimmstress-Versuche bei M?usen.
Die Erforschung von Stress ist aber ?usserst relevant, wie Bohacek betont. ?Anhaltender Stress geh?rt zu den wichtigsten Ausl?sern von psychischen Erkrankungen beim Menschen. Es ist fundamental, dass wir die molekularen Mechanismen dahinter verstehen?, sagt er. Wenn die biomedizinische Forschung Fortschritte machen m?chte beim Verst?ndnis und der Therapie von Krankheiten wie Depressionen, Angstst?rungen, Alzheimer, Krebs oder Herzkreislauferkrankungen, ist sie auch weiterhin auf Tierversuche angewiesen.
Initiative zum Verbot von Tierversuchen
Am 13. Februar 2022 gelangt in der Schweiz eine Volksinitiative zum Verbot von Tier- und Menschenversuchen zur Abstimmung, welche den biomedizinischen Fortschritt verunm?glichen würde. Sie würde nicht nur die tierexperimentelle Forschung und klinische Studien an Menschen verbieten, sondern auch die Einfuhr von neuen Produkten, die mit ihrer Hilfe entwickelt worden sind. Neue Medikamente und Impfstoffe k?nnten nicht mehr in die Schweiz importiert werden.
Tierversuche an der ETH Zürich1, 2
1 Anzahl in Tierversuchen eingesetzter Tiere. Kommt ein Tier in mehreren Versuchen nacheinander zum Einsatz, wird es mehrfach gez?hlt.
2 Die ETH Zürich führt einige Forschungsprojekte mit Tierversuchen gemeinsam mit anderen Hochschulen durch. Einige davon werden der ETH Zürich zugerechnet und erscheinen hier. Andere werden der Partnerhochschule zugerechnet und sind hier nicht enthalten. Dazu geh?ren zum Beispiel die Versuche mit Primaten, welche ETH und Universit?t Zürich gemeinsam durchführen.
3 2019 und 2020: Fütterungsversuche (niedrigster Schweregrad). Die Schweine wurden der regul?ren landwirtschaftlichen Mast zugeführt.
Dieser Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe des ETH-??Magazins ?life?.