Wie erreichen wir eine kritische Masse?
Die scheidende Rektorin Sarah Springman überlegt, wo und wie Frauenf?rderung sinnvoll ist und was es bedeutet, auf diesem Gebiet erfolgreich zu sein.
Diesen Monat endet meine Zeit als Rektorin der ETH Zürich. Viele haben mich gefragt, ob es mir in dieser Funktion gelungen ist, Frauen zu f?rdern. In der Tat war dies in den letzten 25 Jahren ein wichtiges Ziel. Ich konzentriere mich auf die Bereiche, die ich direkt beeinflusst habe.
Noch immer müssen Frauen in der Wissenschaft einen überdurchschnittlichen Effort leisten, um überhaupt gesehen zu werden. Donna Strickland hatte nicht mal einen Wikipedia-Eintrag, bevor sie 2018 den Physik-Nobelpreis erhielt. Natürlich konnte ich keine Nobelpreise vergeben, aber die ETH hat in den letzten sieben Jahren den Frauenanteil bei den Ehrendoktoren auf 41 Prozent und den Ehrenr?ten auf 25 Prozent erh?ht und damit herausragende Frauen ins Rampenlicht gestellt. Es steht der ETH gut an, Frauen, die Ausserordentliches leisten, besonders auszuzeichnen. Warum? Weil sie diese Anerkennung verdienen und unsere Studierenden Vorbilder und die Gewissheit brauchen, dass ihnen jede Tür offensteht und sie alles erreichen k?nnen.
In dieses Kapitel geh?ren natürlich auch die Neuberufungen und die Erh?hung des Frauenanteils in Gremien. Ich bin sehr dankbar, dass die ETH mit Jo?l Mesot einen Mann an der Spitze hat, der nicht nur über Frauenf?rderung redet, sondern diese lebt und konkret umsetzt. Er hat die Zahl der Frauen in der Schulleitung erh?ht und dafür gesorgt, dass in den letzten zwei Jahren über 40 Prozent der neuen Professuren an der ETH mit hochbegabten Frauen besetzt wurden. Das ist für eine technische Hochschule bemerkenswert! Und der Frauenanteil wird weiter steigen, zumal rund 90 Prozent der scheidenden Professoren m?nnlich sind.
Von der kritischen Masse
Es braucht aber nicht nur Vorbilder, es braucht auch Gleichgesinnte. In den sieben Jahren meiner Amtszeit ist der Frauenanteil von insgesamt 30,5 auf 33,3 Prozent gestiegen – was vielleicht nicht nach so viel klingt. Aber was bedeutet das konkret? 2015 studierten rund 5870 Frauen an der ETH, heute sind es über 8180 – das sind 2310 Frauen mehr und jede von diesen Frauen macht einen Unterschied. Ob 100 (2015) oder wie im letzten Herbstsemester 200 Studentinnen ihr Informatik-Bachelorstudium gemeinsam beginnen, spielt eine Rolle, weil wir irgendwann die kritische Masse erreichen werden, bei der es einfach ?normal? ist, dass Frauen Informatik studieren. Dafür muss übrigens der Frauenanteil nicht bei genau 50 Prozent liegen.
?Ich habe die Begeisterung gesehen und das Engagement erlebt – mir muss niemand erz?hlen, dass sich M?dchen nicht für Natur- und Ingenieurwissenschaften interessieren.?Sarah Springman
Als Vizepr?sidentin der externe Seite kihz-Stiftung war es mir sehr wichtig, dass wir das Angebot an Pl?tzen für Kleinkinder von Jahr zu Jahr erh?hen, um junge Mütter zu unterstützen und gleichzeitig ein hohes Mass an Bildung, Effizienz und Wirtschaftlichkeit zu gew?hrleisten. Wir haben auch eine Beratung für junge studierende Eltern eingeführt, die ihnen dabei hilft, ihre famili?ren Verpflichtungen mit dem Studium zu vereinbaren. Dies ist wichtig, damit wir Studierenden mit unterschiedlichem famili?ren Hintergrund ein Studium erm?glichen k?nnen und eine kritische Masse erreichen.
Ganz früh beginnen
M?dchen und Frauen zu f?rdern, damit sie auch in MINT-F?chern Karriere machen k?nnen, liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse des Landes. Dazu braucht es einen gesellschaftlichen Wandel auf allen Ebenen und neue Denkweisen. Davon müssen wir auch Lehrpersonen, Eltern und Grosseltern überzeugen! Vor allem muss die F?rderung so früh wie m?glich beginnen, wenn die Rollenstereotypen bei den Kindern noch nicht gefestigt sind. Ich hatte w?hrend meiner Amtszeit das Privileg viele – viele grosse und kleine – Engagements zu sehen, bei denen M?dchen und junge Frauen ganz bewusst (und auch selbstbewusst!) in den MINT-F?chern Grossartiges leisten.
Wir haben Professor Juraj Hromkovic und das Ausbildungs- und Beratungszentrum für Informatikunterricht (ABZ) nicht nur bei der Durchführung der Ersten Europ?ischen M?dchenolympiade in Informatik 2021unterstützt. In den letzten 15 Jahren hat das ABZ mehr als 10’000 M?dchen zwischen 10 und 12 Jahren erreicht, die in Unterrichtseinheiten das Programmieren erlernten. Eine wesentliche Einführung für alle Bildungsschichten, die einige wichtige geschlechtsspezifische Hürden beseitigt.
So habe ich beispielsweise letztes Jahr die ?i-Girls? getroffen, die am Robotik-Wettbewerb ?First Lego League? teilnahmen. Ich habe ihre Begeisterung gesehen und ihr Engagement erlebt – mir muss niemand erz?hlen, dass sich M?dchen nicht für Natur- und Ingenieurwissenschaften interessieren. Das hat vermutlich noch nie gestimmt und wir sollten uns endgültig von dieser falschen These verabschieden.
Die ETH m?chte generell bei der frühen F?rderung etwas beitragen. Die neu gegründete Youth Academy bietet interessierten Schülerinnen und Schülern verschiedene Kursangebote zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Themen an, die ihr konzeptionelles Verst?ndnis verbessern, sowie das schulische Lernen abrunden und vertiefen.
Mein Fazit
Wir müssen uns also früh von Stereotypen verabschieden, wir brauchen mehr Vorbilder und wir sollten eine kritische Masse erreichen, wenn es um Frauenf?rderung geht. Was ziehe ich also für eine Bilanz? Wir waren auf diesem Gebiet wohl erfolgreicher, als ich anfangs gedacht habe, aber natürlich nie so erfolgreich, wie ich mir das gewünscht h?tte!
Und so werde ich aus der Ferne die weiteren Fortschritte beobachten und wünsche allen Menschen – M?nnern, Frauen und non-bin?ren Personen – an der ETH nur das Beste!