« Wir brauchen einen Schock »
Eine sichere Energieversorgung ist für uns alle zentral. Damit das so bleibt, müssen wir jetzt die richtigen Weichen stellen. Fragt sich nur: welche?
- Vorlesen
- Anzahl der Kommentare
Der Schweizer Bundesrat warnt vor einer Strom- und Gasmangellage diesen Winter. Wie realistisch sch?tzen Sie dieses Szenario ein?
Tobias?Schmidt: Das h?ngt vor allem von Faktoren ab, die wir in der Schweiz nicht beeinflussen k?nnen. Wir k?nnen das Schweizer Energiesystem nicht abgekoppelt vom europ?ischen Stromsystem betrachten. Die gr?sste Gefahr ist, dass Russland seine Gaslieferungen massiv zurückf?hrt. Ein harter Winter erh?ht das Risiko einer Mangellage in L?ndern wie Deutschland, die sehr viel Gas zum Heizen brauchen.
Annalisa Manera: Das gr?sste unmittelbare Risiko ist ein Blackout bei der Stromversorgung – nicht nur in diesem Winter, sondern auch l?ngerfristig. Wir haben das Beispiel von Texas gesehen, wo ein Wintersturm 2021 die Energieversorgung zum Erliegen brachte. Die Probleme der Energiebeschaffung werden sich versch?rfen, da wir den Verkehr, Heizungen und Teile der Industrie elektrifizieren wollen. Unser Strombedarf wird steigen.
Schmidt: Eine Situation wie in Texas erwarte ich nicht in Europa. Das texanische Netz ist abgekoppelt vom Rest des Landes und daher anf?lliger für St?rungen. In Europa haben wir ein kontinentales Stromnetz, sodass man Ausf?lle von Kraftwerken viel besser kompensieren kann.
Herr Filippini, wie sch?tzen Sie die Lage ein?
Massimo Filippini: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir diesen Winter im Strommarkt ein Problem bekommen, ist gering. Vieles h?ngt davon ab, wie viel Niederschlag im Herbst fallen wird, und wie viel Gas wir aus Russland importieren k?nnen, weil das für die Stromerzeugung im Ausland wichtig ist. Das Problem liegt vor allem beim Gasmarkt. K?nnen wir in Europa weniger russisches Gas importieren, werden die Preise stark anziehen. Deutschland wird dann eine entscheidende Rolle spielen: Nutzt Deutschland das Gas nur für sich oder liefert es weiterhin wie vereinbart an seine Nachbarn?
?Wir brauchen mehr Mut, um effizientere energie- und klimapolitische Massnahmen einzuführen.?Massimo Filippini
Was w?ren die Konsequenzen?
Filippini: Der kommende Winter wird ein Testfall für Europa: Gas kann entweder als gemeinsame Ressource betrachtet werden, oder jeder Staat schaut nur für sich selber. Im letzteren Fall stehen am Ende alle schlechter da.
Was bedeutet das für die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied?
Schmidt: Die Schweiz kann Vertr?ge mit Nachbarl?ndern abschliessen, in denen man sich gegenseitigen Beistand in einer Mangellage zusichert. Diese Abkommen sind ungeachtet der politischen Diskussion um das Rahmenabkommen m?glich. Was es eigentlich br?uchte, ist ein Stromabkommen mit der EU. Dieses liegt aber seit dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen auf Eis.
Manera: Das Problem ist, dass die Netzbetreiber innerhalb der EU in Zukunft verpflichtet sein werden, einen Grossteil ihrer Grenzkapazit?ten für den innereurop?ischen Handel freizuhalten. Davon ist die Schweiz ausgeschlossen.
Schmidt: Hier zahlt die Schweiz vielleicht die Kosten dafür, dass sie sich gegenüber der EU so isoliert hat.
Filippini: Die Wichtigkeit von Speichern im europ?ischen System nimmt zu, je h?her der Anteil der Erneuerbaren ist. Die Schweiz spielt eine wichtige Rolle auf dem europ?ischen Strommarkt, sowohl aufgrund der Speicherkapazit?ten als auch als internationales Transitnetz. Es ist daher nicht im Interesse der benachbarten EU-L?nder, den grenzüberschreitenden Stromhandel mit der Schweiz zu unterbinden.
Was kann die Bev?lkerung beitragen, um das Risiko zu minimieren?
Filippini: Unsere Studien zeigen, dass wir 20 bis 30 Prozent der Energie verschwenden. Wenn Haushalte die Raumtemperatur um 1 oder 2 Grad senken und kürzer lüften, k?nnen wir bis zu 15 Prozent Energie sparen. Man kann kurzfristig auch in Thermostate investieren und mittelfristig Heizsysteme und Fenster modernisieren. Es braucht beides: Investitionen und Verhaltens?nderungen.
Schmidt: In Japan kam es nach dem Reaktorunfall von Fukushima zu einer Strommangellage. Man konnte daraufhin in der Bev?lkerung eine starke Anpassung beobachten. Insgesamt sank der Strombedarf. Um kurzzeitige Mangellagen im Winter zu bew?ltigen, müssen wir auch auf solche Verhaltens?nderungen setzen. Wenn man die Bev?lkerung gut informiert und sie das Problem versteht, dann reagiert sie auch entsprechend.
?Mit der Kernenergie kann man die Grundlast zuverl?ssig decken und die Abh?ngigkeit vom Ausland reduzieren.?Annalisa Manera
In Japan handelte es sich aber um eine Katastrophe. ?ndert die Bev?lkerung ihr Verhalten wirklich, wenn die Situation weniger dramatisch ist?
Filippini: Wenn der Gaspreis um 10 Prozent steigt, sinkt die private Nachfrage um 7 Prozent, das zeigen wir in einer aktuellen Studie. Generell glaube ich aber, dass wir einen Energieschock brauchen, damit sich die Einstellung und das Verhalten ?ndern. 1973 gab es einen ?lschock, und danach haben die Leute begriffen, dass die Versorgung mit Energie ein Problem ist. Ich erinnere mich noch gut an die autofreien Sonntage damals.
Mittelfristig stellt sich die Frage, wie schnell wir die erneuerbaren Energiequellen ausbauen k?nnen, insbesondere bei der Solarenergie. Wo stehen wir hier?
Schmidt: Die Schweiz hinkt beim Ausbau von Fotovoltaikanlagen immer noch hinterher. Dafür gibt es drei Gründe: Zum einen verbieten wir den Bau von Anlagen auf der Freifl?che wie zum Beispiel neben der Autobahn, obwohl dies die günstigste Art der Stromerzeugung ist. Das muss sich ?ndern und dafür ist ein Umdenken in der Raumplanung notwendig. Zum anderen hat die Schweiz historisch bedingt ein sehr fragmentiertes Stromsystem. Es gibt über 600 Teilnetzbetreiber mit unterschiedlichen Regeln zur Einspeisung von Solarstrom. Das ist für gr?ssere Investoren nicht attraktiv.
Und der dritte Punkt?
Schmidt: Der Bundesrat plant, einmalige Subventionen für den Bau von Grossanlagen mittels Auktionen zu vergeben. Kein anderes Land macht das so, denn heutzutage sind die Baukosten nicht mehr das grosse Hindernis. Es w?re besser, der Anbieter mit dem tiefsten Preis pro Kilowattstunde würde den Zuschlag erhalten und der Bund würde ihm dann diesen Preis über einen gewissen Zeitraum garantieren. Da es einen solchen F?rdermechanismus in der Schweiz nicht gibt, fliesst viel Kapital ins Ausland.
Frau Manera, wie halten Sie es mit der Solarenergie?
Manera: Ich bin absolut für deren Ausbau. Ich frage mich aber, welche Auswirkungen es hat, wenn wir so viele Solarpanels bauen. Es gibt ja bereits heute einen Mangel an Lithium, Silizium und anderen Materialien, die für die Erneuerbaren wichtig sind. Wollen wir diese Abh?ngigkeit wirklich?
Schmidt: Es gibt keinen Mangel an Material, sondern kurzfristig erh?hte Preise. Die Produktion des Siliziums und der Solarzellen findet zwar gr?sstenteils in China statt, aber wir k?nnten sie wieder nach Europa zurückholen. Das Wissen und die Patente sind noch vorhanden.
Filippini: Wir werden generell ein Ressourcenproblem bekommen, bei allen Technologien, auch bei der Kernkraft. So spielt Russland beispielsweise nicht nur auf dem Gasmarkt, sondern auch auf dem Uranmarkt eine sehr wichtige Rolle.
Manera: Das Problem der Versorgung ist bei der Kernenergie aber viel kleiner. Uranbrennst?be kann man in einem Reaktor w?hrend vier bis fünf Jahren verwenden, sodass man mehr Zeit hat, neue Liefervertr?ge auszuhandeln. Die gr?ssten Produzenten von Uran sind Kasachstan, Kanada und Australien. Zudem: Wenn sich die Kosten für Uran erh?hen, f?llt das umgerechnet kaum ins Gewicht.
?Wir k?nnen das Schweizer Energiesystem nicht abgekoppelt vom europ?ischen Stromsystem betrachten.?Tobias Schmidt
Ein Grund für die drohende Mangellage ist, dass die H?lfte der franz?sischen Kernkraftwerke wegen Wartungsschwierigkeiten stillsteht und Frankreich weitaus weniger Strom exportiert als üblich. Sind AKW doch nicht so zuverl?ssig?
Manera: In der Schweiz hat es solche l?ngerfristigen Abschaltungen nie gegeben. Mehrere franz?sische Reaktoren sind alt und vom gleichen Typ. Stellt man bei einem Reaktor Korrosionssch?den fest, muss man auch alle anderen Kraftwerke des gleichen Typs vom Netz nehmen und prüfen.
In der Schweiz ist dies nicht der Fall?
Manera: In der Schweiz sind vier unteschiedliche Reaktortypen im Einsatz, an denen jedes Jahr Erneuerungen vorgenommen werden. In Beznau wurde seit der Inbetriebnahme doppelt so viel investiert, wie der Bau ursprünglich gekostet hat. Aber klar, je l?nger die Laufzeiten der Kraftwerke sind, desto geringer ist ihre Zuverl?ssigkeit. Deshalb müssen wir uns überlegen, was wir machen, wenn die AKW irgendwann ganz vom Netz gehen.
Braucht es denn künftig noch Kernkraftwerke, um die Versorgungssicherheit sicherzustellen?
Manera: Die starken wetterbedingten Schwankungen von Sonne und Wind lassen sich ohne die Kernkraft und bezahlbare Speicherkapazit?ten nicht vollst?ndig ausgleichen. Ich werde vor allem bei Szenarien stutzig, in denen 100 Prozent der Energie aus volatilen Quellen wie Windkraft und Solar kommt und die Abh?ngigkeit vom Ausland sehr hoch ist. Mit der Kernenergie kann man die Grundlast zuverl?ssig decken und die Abh?ngigkeit vom Ausland reduzieren. Wieso sollen wir auf eine Stromquelle verzichten, die gut funktioniert?
Herr Filippini, Sie scheinen dem nicht zuzustimmen?
Filippini: Mit den erneuerbaren Energien und der Digitalisierung der Stromversorgung verliert der Begriff Grundlast an Bedeutung. Ausserdem sind die Produktionskosten von neuen Kernkraftwerken zu hoch und die Bauzeiten zu lang. In einem deregulierten Elektrizit?tsmarkt ist kein privater Akteur bereit, in Kernkraftwerke zu investieren oder einen Reaktorunfall zu versichern. Der Staat müsste die Finanzierung und das Risiko tragen. Natürlich kann man sagen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Reaktorunfalls oder eines terroristischen Anschlags sehr gering ist. Aber angesichts der Bev?lkerungsdichte in der Schweiz führen auch geringe Wahrscheinlichkeiten zu einem hohen Risiko. Zuletzt: Niemand will ein neues AKW oder ein Endlager in seiner N?he haben.
Manera: Aber das trifft auf grosse Solaranlagen, wie sie zum Beispiel in Gondo geplant sind, auch zu. Wenn wir Leibstadt ersetzen wollen, brauchen wir 400 dieser Anlagen, von denen jede etwa 14 Fussballfelder gross ist.
Warum braucht der Bau von AKW so viel Zeit?
Manera: Die laufenden Bauprojekte in Europa dauern so lange, weil man vorher 20 Jahre keine neuen AKW mehr gebaut hat. Ganz anders verh?lt es sich bei Anbietern von Kernkraftwerken aus anderen L?ndern wie Südkorea, die ein Projekt in nur wenigen Jahren von Anfang bis Ende abwickeln, wie das jüngste Beispiel in den Vereinigten Arabischen Emiraten zeigt.
Filippini: Aber wir sind hier in der Schweiz. Wir brauchen bereits für eine Windturbine auf dem Gotthardpass 20 Jahre.
Schmidt: Man müsste zudem die Bev?lkerung überzeugen, dem Bau neuer AKW zuzustimmen. Aktuell halte ich das für aussichtslos.
Wie schaffen wir es, all diese Herausforderungen zu bew?ltigen?
Manera: Wichtig ist jetzt, den richtigen Kurs für die n?chsten 20 Jahre festzulegen, und zwar mit den technologischen L?sungen, die uns heute zur Verfügung stehen.
Filippini: Wir brauchen mehr Mut, um effizientere energie- und klimapolitische Massnahmen einzuführen. Die Schweiz muss wieder zur Vorreiterin werden. Dabei brauchen wir sowohl Anreize als auch neue Regeln und Verbote. Denn Konsument:innen und auch Firmen handeln nur bedingt rational.
Schmidt: Wir k?nnen aus der Geschichte lernen: Aufgrund einer Kohlemangellage hat man in der Schweiz sehr früh auf die Wasserkraft gesetzt und die Eisenbahn elektrifiziert. Von diesen vision?ren Entscheidungen und von diesem Mut profitieren wir heute noch. Wir müssen ausserdem st?rker als Europ?er denken, denn wir sind als Land zu klein, um energiepolitisch autark zu sein.
Zu den Personen
Tobias Schmidt ist Professor für Energie- und Technologiepolitik am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften und Direktor des Instituts für Wissenschaft, Technologie und Politik.
Massimo Filippini ist Professor für ?ffentliche Wirtschaft und Energie?konomie an der ETH Zürich und der Università della Svizzera italiana und Direktor des Centre for Energy Policy and Economics der ETH Zürich.
Annalisa Manera ist seit 2021 Professorin für nukleare Systeme und Mehrphasenstr?mungen am Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik. Die gemeinsame Professur der ETH und des Paul Scherrer Instituts wurde in Partnerschaft mit dem Bundesamt für Energie und Swissnuclear erm?glicht.
?Globe? Energie mit Zukunft
Dieser Text ist in der Ausgabe 22/03 des ETH-????Magazins Globe erschienen.