Forschende verschafften sich einen ?berblick darüber, wie sich das Pandemievirus weiterentwickeln k?nnte. Eine von ihnen entwickelte Methode k?nnte helfen, Antik?rpertherapien und Impfstoffe zu entwickeln, die auch gegen zukünftige Virusvarianten wirksam sind.
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Das Pandemievirus Sars-CoV-2 wandelt sich st?ndig, und neue Varianten k?nnen die Welt unvorbereitet treffen – so geschehen im vergangenen November mit der Omikron-Variante. Die Gesundheitsbeh?rden mussten damals sehr schnell auf die neue Situation reagieren. Anfangs kannte noch niemand die Antworten auf grundlegende Fragen: Wie gut sind geimpfte und genesene Menschen gegen die neue Variante geschützt? Und sind die Antik?rpertherapien gegen die neue Variante immer noch wirksam?
Forschende um Sai Reddy, Professor am Departement für Biosysteme der ETH Zürich in Basel haben nun eine Methode entwickelt, um solche Fragen mit Hilfe von künstlicher Intelligenz zu beantworten – allenfalls sogar in Echtzeit unmittelbar nachdem eine neue Variante auftaucht.
Die Vielzahl m?glicher Varianten erforschen
Weil sich Viren zuf?llig ver?ndern, weiss heute niemand, wie sich das Pandemievirus in den kommenden Monaten und Jahren genau entwickeln wird und welche Varianten in Zukunft dominieren werden. Die theoretischen M?glichkeiten, wie das Virus mutieren kann, sind immens. Das gilt schon, wenn man nur einen kleinen Teil des Virus betrachtet: das Stachelprotein von Sars-CoV-2, das bei der Infektion des menschlichen K?rpers und der Abwehr durch das Immunsystem eine zentrale Rolle spielt. Alleine in den dafür wichtigen Regionen dieses Proteins gibt es zig Milliarden M?glichkeiten, wie sich der genetische Code theoretisch ver?ndern k?nnte.
Die neue Methode geht daher aufs Ganze: Für jede einzelne in dieser Vielzahl potenzieller Virusvarianten sagt sie voraus, ob sie menschliche Zellen zu infizieren vermag und ob sie von Antik?rpern, die das Immunsystem von geimpften und genesenen Personen produziert, erkennt und neutralisiert wird. Mit grosser Wahrscheinlichkeit befindet sich unter diesen potenziellen Varianten diejenige auch jene, welche die n?chste Phase der Covid-19-Pandemie dominieren wird.
Synthetische Evolution
Als Grundlage für ihre Methode erzeugten Reddy und sein Team im Labor eine grosse Sammlung mutierter Varianten des Sars-CoV-2-Stachelproteins. Sie arbeiteten dabei nicht mit lebenden Viren, sondern nur mit einem Teil des Stachelproteins. Es bestand somit keine Gefahr, dass lebende Viren aus dem Labor entweichen konnten.
Das Stachelprotein heftet sich w?hrend einer Infektion an das sogenannte ACE2-Protein auf der Oberfl?che von menschlichen Zellen; die Antik?rper von geimpften oder genesenen Personen sowie solche in Antik?rpermedikamenten wirken, indem sie diesen Mechanismus blockieren. Viele der Mutationen in den bisherigen Sars-CoV-2-Varianten traten an dieser Andockstelle des Stachelproteins auf, was es diesen Varianten erm?glichte, dem Immunsystem zu entgehen und sich weiter auszubreiten.
Die von den Basler Forschern geschaffene Sammlung umfasst zwar nicht alle theoretisch m?glichen Varianten – es w?re kaum m?glich, im Labor mehrere Milliarden Varianten zu testen –, aber immer hin eine Million davon. Diese tragen verschiedene Mutationen oder Kombinationen von Mutationen.
Mit Hochdurchsatzmethoden und mit der Sequenzierung der DNA dieser Million Varianten ermittelten die Forschenden, wie diese Varianten mit dem ACE2-Protein und mit bestehenden Antik?rpermedikamenten wechselwirkten. Ihre Daten geben Aufschluss darüber, wie gut die einzelnen Varianten potenziell menschliche Zellen infizieren und wie gut sie den Antik?rpern ausweichen k?nnen.
?Unsere Methode erm?glicht Forschenden zu ermitteln, welche Antik?rper das gr?sste Potenzial haben, nicht nur aktuelle, sondern auch künftige Varianten wirksam zu neutralisieren.?Sai Reddy
Anschliessend nutzten die Forschenden die gesammelten Daten, um Modelle des maschinellen Lernens zu trainieren. Diese Modelle k?nnen nun aufgrund der DNA-Sequenz einer Variante genau vorhersagen, ob diese Variante in der Lage ist, an das ACE2-Protein anzudocken und damit eine menschliche K?rperzelle zu infizieren. Ausserdem k?nnen die Algorithmen voraussagen, ob die Variante bestehenden neutralisierenden Antik?rpern ausweichen kann. Die Computermodelle k?nnen nun dazu verwendet werden, diese Vorhersagen für die zig Milliarden theoretisch m?glicher Varianten zu treffen, was weit über die Million Varianten hinausgehen, welche die Forschenden im Labor getestet haben.
Wirksamere Antik?rpermedikamente
Die neue Methode kann nun auch dazu beitragen, die n?chste Generation von Antik?rpertherapien zu entwickeln. Mehrere solcher Antik?rpermedikamente wurden zur Behandlung des ursprünglichen Sars-CoV-2-Virus entwickelt und in den USA und Europa zugelassen. Fünf davon mussten nachtr?glich wieder vom Markt genommen werden, weil sie sich gegen die Omikron-Variante als zu wenig wirksam erwiesen haben. Bei anderen Therapien, die sich noch in der Entwicklung befunden haben, wurde aus demselben Grund die Entwicklung eingestellt.
?Unsere Methode erm?glicht Forschenden zu ermitteln, welche Antik?rper das gr?sste Potenzial haben, nicht nur aktuelle, sondern auch künftige Varianten wirksam zu neutralisieren?, sagt Reddy. Die ETH-Wissenschaftler arbeiten bereits mit Biotechnologieunternehmen zusammen, die Covid-19-Antik?rpertherapien der n?chsten Generation entwickeln.
Immunevasive Varianten entdecken
Die an der ETH Zürich entwickelte Methode k?nnte sich ausserdem für die Entwicklung der n?chsten Generation von Covid-19-Impfstoffen nützlich erweisen: Mit der Methode k?nnen potenzielle Virusvarianten identifiziert werden, die an das ACE2-Protein binden – und somit menschliche Zellen infizieren k?nnen –, aber von den Antik?rpern geimpfter und genesener Personen nicht neutralisiert werden k?nnen.
?Natürlich weiss niemand, welche Variante von Sars-CoV-2 als n?chstes auftauchen wird?, sagt Reddy. ?Aber man kann Schlüsselmutationen identifizieren, die in künftigen Varianten vorkommen k?nnen, und dann im Voraus Impfstoffe entwickeln, die einen breiteren Schutz bieten gegen solche potenziellen zukünftigen Varianten.?
Beh?rden bei ihren Entscheidungen helfen
Schliesslich ist die neue Methode für die Gesundheitsbeh?rden interessant. Die Beh?rden k?nnen damit beim Auftreten einer neuen Virusvariante sehr schnell bestimmen, welche der bestehenden Impfstoffe auch noch gegen die neue Variante wirksam ist. Die Methode kann damit Entscheidungen im Zusammenhang mit Impfungen beschleunigen. So kann es beispielsweise sein, dass Personen, die einen bestimmten Impfstoff erhalten haben, Antik?rper produzieren, die gegen eine neue Variante nicht wirksam sind, und daher so bald wie m?glich Auffrischungsimpfungen erhalten sollten.
Reddy weist darauf hin, dass man die Technologie ausserdem an andere Viren anpassen k?nne, zum Beispiel an das Influenzavirus, das die saisonale Grippe verursacht, um auch dort in Zukunft mehr Informationen zu erhalten für die Entwicklung von Impfstoffen.
Diese Forschung wurde unterstützt durch das Botnar Research Centre for Child Health im Rahmen des ?Fast Track Calls? zur Covid-19-Soforthilfe.
Literaturhinweis
Taft JM, Weber CR, Gao B, Ehling RA, Han J, Frei L, Metcalfe SW, Overath M, Yermanos A, Kelton W, Reddy ST: Deep mutational learning predicts ACE2 binding and antibody escape to combinatorial mutations in the SARS-CoV-2 receptor binding domain, Cell, 31. August 2022 (Journal Pre-Proof), doi: externe Seite 10.1016/j.cell.2022.08.024