Stabil in allen möglichen Formen
ETH-Forschende haben eine Struktur entwickelt, die sich beliebig in verschiedene stabile Formen umwandeln l?sst und gleichzeitig bemerkenswert einfach hergestellt werden kann. Der Schlüssel dazu liegt in einer geschickten Kombination der Ausgangsmaterialien.
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Seit l?ngerem tüfteln Forscherinnen und Forscher an Materialien, die je nach Bedarf verschiedene stabile Formen annehmen k?nnen. Ziel dieser sogenannt multistabilen Strukturen ist es, Objekte zu bauen, deren dreidimensionale Gestalt sich je nach Bedarf dauerhaft ver?ndern l?sst. Damit k?nnte man beispielsweise anpassungsf?hige Fassadenelemente bauen oder grosse Objekte, die sich einfach platzsparend transportieren lassen.
Doch der grosse Durchbruch l?sst noch auf sich warten. Denn die bisherigen L?sungen sind entweder sehr aufw?ndig in der Herstellung, lassen sich nur einmal verformen oder ben?tigen eine kontinuierliche Energiezufuhr, um den ver?nderten Zustand aufrechtzuerhalten.
Bemerkenswert einfache L?sung
Giada Risso, Doktorandin in der Gruppe für Verbundmaterialien und adaptive Strukturen von Paolo Ermanni, hat kürzlich in der Fachzeitschrift ?Advanced Science? einen neuen Ansatz vorgestellt, der diese Nachteile überwindet. ?Eines meiner Hauptziele war, eine flache multistabile Struktur zu entwickeln, die sich einfach herstellen l?sst?, erkl?rt sie. Die L?sung ist bemerkenswert einfach: Sie klebt einen flachen Verbundrahmen auf eine vorgedehnte, weiche thermoplastische Folie aus Polyurethan. ?Eine ebene Fl?che, ein Halter zum Vorspannen der Folie – das ist im Grunde alles, was man braucht?, erkl?rt Risso.
Biegt man mit der Hand die so gefertigte Struktur, springt diese vom anf?nglich flachen Ausgangszustand in eine gebogene Form, die sich ohne weiteres Zutun nicht mehr ver?ndert. Mit einem zweiten Handgriff l?sst sich die Form erneut ver?ndern, wiederum bleibt der neue Zustand ohne weiteres Zutun erhalten. Und auch der Ausgangszustand l?sst sich ohne weiteres wieder herstellen.
Ein Rahmen mit Karbonfasern
Doch warum genau l?sst sich diese Struktur so flexibel in verschiedene stabile Zust?nde verformen? Das Entscheidende ist, welches Material man als Rahmen nimmt, hat Risso herausgefunden. ?Die besten Resultate erzielen wir mit einem Verbundmaterial aus Karbonfasern. Damit entsteht eine Struktur, die tats?chlich mehrere stabile Zust?nde einnehmen kann.? Nimmt man hingegen Glasfasern als Umrandung, sind deutlich weniger stabile Formen m?glich. Am schlechtesten schneidet Stahl als Begrenzungsmaterial ab: Damit l?sst sich kein zweiter stabiler Zustand erzeugen.
Risso hat in ihrer Arbeit theoretisch dargestellt, warum die verschiedenen Materialien zu derart unterschiedlichen Resultaten führen. ?Karbonfasern sind hochgradig anisotrop, das heisst, sie weisen in den verschiedenen Raumrichtungen sehr unterschiedliche Eigenschaften auf. Je nach dem, in welche Richtung man also an ihnen zieht, sind sie unterschiedlich fest. Erst durch diese Anisotropie entsteht eine multi-stabile Form.? Da Stahl im Gegensatz zu Karbonfasern isotrop ist, l?sst sich damit auch keine multi-stabile Form herstellen.
Raupe als Vorbild
Der Grundbaustein der neuen Struktur ist ein quadratisches Element. Dieses l?sst sich beliebig mit weiteren Quadraten erweitern. Da jedes einzelne Quadrat verschiedene stabile Zust?nde annehmen kann, entsteht in der Kombination eine grosse Vielzahl von m?glichen Formen.
In einem n?chsten Schritt hat Risso eine Struktur bestehend aus 16 Quadraten mit sogenannt pneumatischen Aktuatoren ausgerüstet. Diese funktionieren ?hnlich wie ein ?einseitiger? Ballon, dehnen sich also auf eine Seite aus, wenn Luft hineinstr?mt. Presst man Luft in einzelne Aktuatoren, verbiegt sich die Struktur in der gewünschten Weise und nimmt eine neue Form ein. In Experimenten konnte Risso zeigen, dass man damit die Bewegung einer Raupe nachempfinden kann.
Risso sieht viele Einsatzm?glichkeiten für solche Strukturen, beispielsweise um ver?nderbare Fassadenelemente zu bauen oder flexible Roboter. Am meisten interessiert sei die Raumfahrtindustrie: ?Diese verwendet bereits heute leichte Verbundmaterialien und ist darauf angewiesen, kompakte Materialien zu haben, die sich einfach ver?ndern lassen.? Mit dem neuen Ansatz k?nnte man beispielsweise Antennen oder Solarpanels konstruieren, die sich nach dem Transport ins All einfach entfalten und konfigurieren lassen.
Der Vielfalt sind keine Grenzen gesetzt
Das Prinzip funktioniert übrigens nicht nur mit quadratischen Grundelementen, sondern auch mit beliebig anderen Polygonen, wie Risso in einer weiteren Arbeit zeigen konnte. Damit wird sich das Anwendungsspektrum massiv erweitern. ?Wer weiss, vielleicht wird man mit solchen Materialien schon bald würfelf?rmige Figuren bauen, die sich dann im Handumdrehen in exotische dreidimensionale Strukturen verwandeln?, meint sie lachend.
?Sollte es uns gelingen, diese Elemente bis in den Millimeterbereich hinein zu verkleinern, k?nnte ich mir auch einen Einsatz in der Medizin vorstellen.?Giada Risso
Tats?chlich regt das neue Konzept mit seinen vielseitigen M?glichkeiten die Fantasie an. ?Ich kann l?ngst nicht alle M?glichkeiten ausloten, denn ich muss mich nun auf den Abschluss meiner Doktorarbeit konzentrieren?, sagt Risso. Die verbleibende Zeit wolle sie beispielsweise nutzen, um noch einige offene Forschungsfragen zu kl?ren.
Mit ihrem Hintergrundwissen in angewandter Mathematik wolle sie zum Beispiel die Frage kl?ren, wie stabil ein stabiler Zustand sei. Auch die Geschwindigkeit der Verformung sei ein kritischer Punkt, den es noch genauer anzuschauen gelte. ?Für viele Anwendungen w?re es wichtig, dass sich das Material nicht ruckartig ver?ndert, sondern auf kontrollierte Weise von einem Zustand in den n?chsten übergeht?, erl?utert sie. ?Deshalb untersuchen wir auch, wie sich die Verformung besser steuern und verlangsamen l?sst.?
Und schliesslich gibt es auch noch den Gr?ssenaspekt: ?Wir wissen noch nicht, wie stark wir die einzelnen Elemente verkleinern k?nnen. Sollte es uns gelingen, diese Elemente bis in den Millimeterbereich hinein zu verkleinern, k?nnte ich mir auch einen Einsatz in der Medizin vorstellen?, meint Risso. ?Doch das ist wirklich noch Zukunftsmusik.?
Literaturhinweis
Risso G, Sakovsky M, Ermanni P. A Highly Multi-Stable Meta-Structure via Anisotropy for Large and Reversible Shape Transformation. Advanced Science 21 July 2022. DOI: externe Seite 10.1002/advs.202202740