Besser verstehen, wie die Blut-Hirn-Schranke funktioniert
Die Barriere zwischen Blut- und Nervensystem anhand von Modellen zu untersuchen, war bisher nicht umfassend m?glich oder umst?ndlich. ETH-Forschende haben nun ein realit?tsn?heres Modell entwickelt, mit dem auch neue Therapien gegen Hirntumore besser erforscht werden k?nnen.
- Vorlesen
- Anzahl der Kommentare
Einem Elfj?hrigen würde Mario Modena, Postdoc am Bio Engineering Labor der ETH Zürich, seine Forschung zur Blut-Hirn-Schranke, die unser zentrales Nervensystem vor sch?dlichen Substanzen im Blutkreislauf schützt, so erkl?ren: ?Diese Mauer ist wichtig, weil sie die schlechten Kerle davon abh?lt, zum Gehirn zu gelangen.? Bei einer Verletzung oder Erkrankung des Gehirns k?nne die Mauer l?chrig werden. Manchmal seien solche L?cher sogar vorteilhaft, weil man zum Beispiel Medizin ins Gehirn bringen muss. ?Wir wollen also verstehen, wie man diese Mauer instand h?lt, sie durchbrechen kann und wieder repariert.?
Dies ist auch aus medizinischer Sicht wichtig, da viele Erkrankungen des zentralen Nervensystems mit einer Verletzung der Blut-Hirn-Schranke in Verbindung gebracht werden. Wie genau sie funktioniert, erforschen Wissenschaftler:innen oft an lebenden Tieren. Das ist verh?ltnism?ssig teuer, und tierische Zellen liefern nur bedingt Aufschluss über die Funktion des menschlichen K?rpers. Ausserdem gibt es Kritiker, die Tierversuche grunds?tzlich infrage stellen. Eine Alternative ist die Forschung an kultivierten menschlichen Zellen im Labor.
Zellkommunikation bisher wenig beachtet
Das Problem dieser in-vitro-Modelle: Meist wird die Blut-Hirn-Schranke auf relativ einfache Weise mit Blutgef?sswandzellen (Endothelzellen) nachgebaut, was nicht dem komplexen Aufbau im menschlichen K?rper entspricht und etwa die Kommunikation zwischen verschiedenen Zelltypen ausser Acht l?sst. Zudem sind viele Modelle statisch: Zellen schwimmen gleichsam in einer L?sung, die sich nicht bewegt, womit weder der Faktor Scherspannung, unter der die Zellen im K?rper stehen, noch der Faktor Flüssigkeitsfluss in die Beobachtungen einbezogen werden.
In dynamischen in-vitro-Modellen hingegen, die die Flussverh?ltnisse im K?rper nachahmen, kommen meist Pumpen zum Einsatz, die den Versuchsaufbau verkomplizieren. Zu all diesen Herausforderungen gesellt sich auch noch die Problematik der Messung: Es ist kaum m?glich, in Echtzeit hochaufl?sende Bilder von der Strukturver?nderung der Barriere und gleichzeitig Zahlen zum elektrischen Widerstand und der damit verbundenen Kompaktheit und Dichtigkeit der Blut-Hirn-Schranke zu liefern.
Mehrere Fliegen mit einer Klappe
Wenn alle diese Herausforderungen Fliegen w?ren, dann würde die Plattform von Mario Modena sie mit einer Klappe schlagen. Dreieinhalb Jahre haben er und Kolleg:innen unter der Leitung von Andreas Hierlemann ein offen-mikrofluidisches 3D-Blut-Hirn-Schranken-Modell entwickelt.
Für die Barriere hat das Forschungsteam auf einer Plattform jene Zelltypen kombiniert, die auch natürlicherweise die Blut-Hirn-Schranke bilden: mikrovaskul?re Endothelzellen, humane Astrozyten und humane Perizyten. ?Damit replizieren wir fast die 3D-Zell-Struktur im menschlichen K?rper?, sagt Modena. ?Aber das wirklich Einzigartige ist, dass wir die Durchl?ssigkeit der Schranke messen und zugleich mit hochaufl?sender Zeitraffermikroskopie morphologische Ver?nderungen der Barriere abbilden k?nnen.? Damit beides m?glich ist, haben die Forschenden zur Messung der Durchl?ssigkeit – man misst dazu den elektrischen Widerstand über die Zellbarriere hinweg – komplett durchsichtige Elektroden auf Deckgl?sern auf beiden Seiten der Barriere angebracht. Transparente Elektroden haben hier einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Elektrodenarten, die wegen ihren Drahtstrukturen die Versuchsergebnisse beeinflussen k?nnen.
?Komplexit?t nicht erh?hen?
Um den Flüssigkeitsfluss im K?rper zu imitieren, haben die Forschenden die Plattform mit der Flüssigkeit in den Reservoiren auf einer Art Wippe angebracht. Die Schwerkraft erzeugt den Fluss, der wiederum die Scherkr?fte auf die Zellen generiert. Andreas Hierlemann erkl?rt den Vorteil dieses Aufbaus: ?Dadurch, dass wir keine Pumpen verwenden, k?nnen wir parallel viele Modelle zum Beispiel im Inkubator testen, ohne die Komplexit?t zu erh?hen.?
In einer Studie, die soeben in der Fachzeitschrift ?Advanced Science? ver?ffentlicht wurde, haben die Forschenden ihr neues in-vitro-Blut-Hirn-Schrankenmodell vorgestellt und getestet. Dazu haben sie die Barriere einem Sauerstoff-Zucker-Mangel ausgesetzt, wie er etwa bei einem Schlaganfall entsteht. ?So konnten wir schnell Ver?nderungen an der Barriere ausl?sen und das Potenzial der Plattform zeigen?, erkl?rt Modena.
Pharmaunternehmen bereits interessiert
In dieser Studie konnten Modena und seine Kolleg:innen nicht nur zeigen, dass sich ihre neuartige Plattform zur Messung eignet. Sie entdeckten auch, dass der elektrische Widerstand der Barriere zusammenbricht, noch bevor sie sich morphologisch ver?ndert und damit durchl?ssiger wird. ?Das k?nnte für künftige Forschung interessant sein?, sagt Modena. Eine weitere Beobachtung: In Kontrollversuchen mit einem statischen in-vitro-Modell war die Barriere durchl?ssiger als in Modenas neuer Versuchsanordnung. ?Die durch schwerkraftgetriebene Str?mung entstandenen Scherkr?fte f?rdern offensichtlich die Bildung einer dichteren Barriereschicht, was best?tigt, wie wichtig Scherkraft in in-vitro-Modellen ist.?
Modena und Hierlemann glauben, dass ihr Modell die Entdeckung von Molekülen, die die Schranke stabilisieren, aber auch von Pr?paraten und Methoden, um diese zu durchbrechen, erleichtern werde. Dies würde bei der Therapie von Hirntumoren eine Rolle spielen. Ihr Modell k?nnte aber auch die Zukunft anderer in-vitro-Forschung beeinflussen, sagt Hierlemann: ?Der Vorteil unserer Plattform ist, dass man sie sehr einfach an andere Endothelzellen-Modelle anpassen kann und dort mit der Kombination aus Dichtigkeitsmessung und hochaufl?sender Mikroskopie neue Forschung erm?glicht?. Dass die Industrie das Modell für zukunftstr?chtig h?lt, zeigt sich schon jetzt. Ein Pharmaunternehmen ist bereits in Kontakt mit den Forschenden.
Literaturhinweis
Wei W, Cardes F, Hierlemann A, Modena MM: 3D In Vitro Blood-Brain-Barrier Model for Investigating Barrier Insults. Advanced Science, 13. Februar 2023, doi: externe Seite 10.1002/advs.202205752