ETH-Forscher Luca Dal Zilio fasst die jüngsten Erdbeben in der Türkei und in Syrien zusammen und beleuchtet die Komplexit?t dieses Ereignisses. Er diskutiert die Lehren, die daraus gezogen werden k?nnen, um zukünftige Erdbeben in der Region besser zu verstehen und sich darauf vorzubereiten.
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Das Wichtigste in Kürze
- Forscher best?tigen, dass sich in der Türkei und Syrien eine Erdbeben-Doublette ereignet hat.
- Das erste Beben war das Zünglein an der Waage, das in einer benachbarten Verwerfung das zweite starke Erdbeben innerhalb sehr kurzer Zeit ausl?ste.
- Expert:innen vermuten entlang der nordanatolischen Verwerfung südlich Istanbul und unter dem Marmarameer eine ?seismische Lücke?, welche auf das Ausbleiben eines starken Erdbebens in den vergangenen 250 Jahren zurückzuführen ist.
- Erdbebengefahr und -risiko sind für die türkische Metropole sehr hoch.
ETH-News: Sie und Ihr Kollege Jean-Paul Ampuero von Geoazur haben soeben einen Kommentar zu den Erdbeben in der Türkei und Syrien von Anfang Februar in einer wissenschaftlichen Zeitschrift ver?ffentlicht. Was gibt es Neues?
Luca Dal Zilio: Die beiden starken Erdbeben, die am 6. Februar 2023 die Türkei und Syrien erschütterten, hatten ?hnliche Magnituden - 7,8 und 7,6 - und lagen nur neun Stunden auseinander. Diese Ereignisse werden als ?Erdbebendoublette? bezeichnet, weil es sich um Paare grosser Erdbeben handelt, deren Zentren n?her beieinander liegen als ihre Bruchgr?sse und die innerhalb eines Zeitraums auftreten, der kürzer ist als die aus der Plattenbewegung abgeleitete Wiederholungszeit.
Lange war die Rede von einem aussergew?hnlich starken Nachbeben.
Das zweite Erdbeben war in diesem Fall kein typisches Nachbeben, da es fast so stark war wie das erste und auf einer anderen, nahe gelegenen Verwerfung auftrat. Normalerweise ist das gr?sste Nachbeben gem?ss dem Bath'schen Gesetz etwa 1,2 Magnituden kleiner als das Haupterdbeben. Jede Erdbebenserie, wie die jüngsten Ereignisse in der Türkei und in Syrien, hat ihre eigenen, einzigartigen Merkmale. Die Untersuchung dieser Ereignisse hilft uns, mehr über die Funktionsweise von Erdbeben zu erfahren und sie besser vorhersagen zu k?nnen.
Warum kam es zu einer Erdbebendoublette?
Es ist wahrscheinlich, dass das erste Erdbeben zu einem Anstieg der statischen Spannung in dem Gebiet beigetragen hat, in dem das zweite Ereignis stattfand. Dieser Anstieg mag zwar nicht erheblich gewesen sein, aber er k?nnte ausgereicht haben, um das zweite Ereignis nur Stunden sp?ter auszul?sen. Dies deutet darauf hin, dass beide Verwerfungen unter kritischer Spannung standen. Das erste Erdbeben k?nnte der zweiten Verwerfungszone, die sich über Jahrzehnte angesammelt hatte und bereits kritisch belastet war, den entscheidenden Anstoss gegeben haben. Weitere Forschungsarbeiten werden dazu beitragen, diesen Aspekt der Wechselwirkungen zwischen Erdbeben besser zu verstehen und einzugrenzen.
Was l?sst sich aus Ihrer Analyse für den Wiederaufbau von St?dten und D?rfern in den betroffenen Regionen lernen?
Bei Erdbeben dieser St?rke lassen sich erhebliche Sch?den nicht vermeiden, vor allem, wenn die St?dte exakt auf seismisch aktiven Verwerfungslinien liegen und grosse Oberfl?chenverschiebungen von sechs bis acht Metern vorkommen. Dieses Ereignis unterstreicht die Notwendigkeit, die starke Bodenbewegungen in der N?he einer Verwerfung besser zu verstehen und die Risikomanagementpraktiken zu aktualisieren, etwa indem berechnet wird, wie die Spannungsübertragung die Gefahrenwahrscheinlichkeit in der Region ver?ndert hat. Idealerweise sollten wir auch herausfinden, inwieweit starke Haupterschütterungen die Stabilit?t von Geb?uden ver?ndert und ihre Anf?lligkeit für Nachbeben erh?ht haben.
Ist die hohe seismische Gef?hrdung und das damit verbundene extreme Risiko für diese Region nicht schon seit Langem bekannt?
Ja, verschiedene europ?ische Institute - darunter der Schweizerische Erdbebendienst an der ETH Zürich - haben in den letzten Jahren einen grossen Aufwand betrieben, um das Erdbebenrisiko in ganz Europa einzusch?tzen. Dank dieser Bemühungen verfügen wir heute über die ?ffentlich zug?ngliche externe Seite Europ?ische Erdbebengefahrenkarte. Diese Karte zeigt, dass die Nordanatolische Verwerfung und die Ostanatolische Verwerfung - die beide durch die Türkei verlaufen - zwei der aktivsten Verwerfungssysteme in Europa und der Welt sind. Hier besteht deshalb eine sehr hohe Erdbebengef?hrdung. Die Nordanatolische Verwerfung, an der Istanbul liegt, stellt ebenfalls ein erhebliches Risiko dar. Entlang dieser Verwerfung gab es im letzten Jahrhundert mehrere Erdbeben. Diese Ereignisse haben nun südlich von Istanbul und unter dem Marmarameer eine ?seismische Lücke? hinterlassen, die seit 250 Jahren nicht mehr gefüllt wurde. Seismische Lücken - das sind Abschnitte eines Verwerfungssystems, in denen über einen l?ngeren Zeitraum keine oder nur geringe seismische Aktivit?ten stattgefunden haben, obwohl benachbarte Abschnitte von Erdbeben betroffen waren. Wir gehen davon aus, dass es sich bei seismischen Lücken um Bereiche entlang einer Verwerfung handelt, in denen sich Spannungen ansammeln, bevor sie in der Zukunft auf einmal freigesetzt werden. Dies führt m?glicherweise zu starken Erdbeben.
Wie sieht diese Zukunft aus, wie geht es weiter?
Im Moment liegt der Schwerpunkt auf der Bew?ltigung der enormen Verluste an Menschenleben und Eigentum. Andererseits werden auf unseren Bericht über dieses katastrophale Ereignis in den kommenden Monaten und Jahren mehrere Folgestudien weitere Erkenntnisse darüber liefern. Wir hoffen, dass wir aus diesem Ereignis lernen, Geb?ude sicherer zu machen und sich besser auf solche Ereignisse vorzubereiten. Als Wissenschaftler hoffen wir, dass dieses Ereignis wertvolle Erkenntnisse über die Mechanik von Verwerfungen und die Physik von Erdbeben liefern kann.
Zur Person
externe Seite Luca Dal Zilio ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geophysik der ETH Zürich. In seiner Forschung befasst er sich mit der Entwicklung und Anwendungen von Computersimulationen. Damit untersucht er unter anderem die Physik von Erdbeben, Verwerfungsmechanismen und der Seismizit?t.
Literaturhinweis
Dal Zilio, L., Ampuero, JP. Earthquake doublet in Turkey and Syria. Commun Earth Environ 4, 71 (2023). doi: externe Seite 10.1038/s43247-023-00747-z