Die Zellen unseres K?rpers wechselwirken mit dem Raum, der sie umgibt. Forschende haben diese wechselseitige Beeinflussung nun im Detail untersucht. In Zukunft m?chten sie das Wissen nutzen, um Wundheilungsst?rungen und Krebs zu diagnostizieren und heilen.
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Das Wichtigste in Kürze
- Mit einem neuen Gewebekultur-System lassen sich nicht nur menschliche Zellen kultivieren, sondern auch das Fasergeflecht, das sie natürlicherweise umgibt.
- Die Zellen und dieses Fasergeflecht beeinflussen einander gegenseitig, insbesondere um dadurch das Gewebewachstum zu kontrollieren.
- Mit solchen Gewebekulturen wird man in Zukunft neue Wirkstoffe testen werden k?nnen, ohne dafür Tierversuche durchführen zu müssen.
- Neue Erkenntnisse k?nnten unter dem Begriff Mechanomedizin helfen, Therapien gegen Fibrosen und Krebs weiterzuentwickeln.
Wie sich ein Embryo entwickelt, wie Kinder heranwachsen, Wunden heilen oder Krebs wuchert – all dies hat mit dem Wachstum von K?rpergewebe zu tun. Dieses Wachstum im Detail zu verstehen, ist eines der Hauptforschungsgebiete von Viola Vogel und Mario C. Benn. Wobei die ETH-Professorin und ihr Oberassistent die ausgetretenen Pfade verlassen: Lange ging es in der Biologie darum, Zellen und die in ihnen ablaufenden biochemischen Stoffwechselvorg?nge zu erforschen, oft ungeachtet ihrer natürlichen Umgebung. Vogel und Benn hingegen richten ihren Blick nun auf die extrazellul?re Matrix, eine faserartige Struktur, welche die Zellen umgibt, von den Zellen selbst hergestellt wird und ein bedeutender Bestandteil aller Gewebe ist.
Die Wechselwirklungen zwischen den Zellen und diesem Fasergeflecht sind vielf?ltig, und sie beruhen nicht ausschliesslich auf Biochemie, sondern auch auf Mechanik und Physik, wie Forschung der letzten Jahre immer deutlicher zeigt. So sind Zellen zum Beispiel in der Lage, von dieser Matrix mechanische Reize wahrzunehmen.
In einer In-vitro-Testumgebung haben Vogel, Benn und ihr Team nun das Gewebewachstum nachgestellt und es genau untersucht. ?Unsere Studienergebnisse unterstreichen die Wichtigkeit der Wechselwirkungen von Zellen und extrazellul?rer Matrix?, sagt Benn. Er m?chte die neuen Erkenntnisse in Zukunft medizinisch nutzen, etwa um Wundheilungsst?rungen zu vermeiden oder bei der Therapie von Krebs oder Bindegewebserkrankungen.
Zellen als Verwandlungskünstler
Im Zentrum der Untersuchungen standen zwei für die Funktion menschlichen Gewebes wichtige Zelltypen, die sich ineinander verwandeln k?nnen: Fibroblasten und Myofibroblasten. Fibroblasten sitzen im Bindegewebe unserer Organe und sorgen dafür, dass die extrazellul?re Matrix st?ndig erneuert wird und gesund bleibt. Kommt es zu einer Verletzung oder wenn Gewebe wachsen soll, verwandeln sich die Fibroblasten zu Myofibroblasten, welche somit eine wichtige Rolle in der Wundheilung und beim Gewebewachstum übernehmen. Sie bilden nicht nur grosse Mengen extrazellul?rer Matrix, sondern sind auch kr?ftig genug, um zum Beispiel Wunden zusammenzuziehen.
?Zellen ohne die extrazellul?re Matrix zu untersuchen ist ?hnlich, wie wenn man das Verhalten von Spinnen ohne ihr Netz studiert.?Viola Vogel
?Myofibroblasten sind bei der Wundheilung unsere Freunde?, sagt Benn. Allerdings müssen sich die Myofibroblasten nach getaner Arbeit wieder in die weniger aktiven Fibroblasten zurückverwandeln. Tun sie dies nicht, kann es zur überm?ssigen Bildung von Narbengewebe kommen, einer Fibrose. Auch im Krebsgewebe kommen die Myofibroblasten vor, wobei ein hoher Anteil dieser Zellen bei vielen Krebsarten mit einer schlechten Prognose verbunden ist.
Dreidimensionales Untersuchungsobjekt
Was bei der Rückverwandlung der Myofibroblasten in Fibroblasten in den Zellen biochemisch abl?uft, ist teilweise bekannt. Nur wenig untersucht ist hingegen, wie die extrazellul?re Matrix diese Zellumwandlung beeinflusst. ?Bei den herk?mmlichen Zellkulturtechniken, bei der Zellen fl?chig in einer Zellkulturschale wachsen, konnte man das schlecht untersuchen, denn es bildet sich dabei eine unnatürliche fl?chige extrazellul?re Matrix. Und sowieso wurde diese in der Forschung meist ignoriert?, sagt ETH-Professorin Vogel. ?Doch Zellen ohne die extrazellul?re Matrix zu untersuchen ist ?hnlich, wie wenn man das Verhalten von Spinnen ohne ihr Netz studiert.?
Ganz anders in der von Vogel und Benn benutzten Technologie, die ursprünglich am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzfl?chenforschung in Potsdam entwickelt und nun von den ETH-Wissenschaftler:innen verfeinert worden ist: Es handelt sich um eine mit bestimmten Proteinen beschichtete Silikon-Form, die mikroskopisch kleine dreieckige Spalten enth?lt und in einem N?hrmedium liegt. ?ber eine Zeit von zwei Wochen bildet sich in diesen Spalten neues Gewebe mit einer natürlicheren extrazellul?ren Matrix, wobei das Gewebewachstum in einer Ecke beginnt und sich das Gewebe immer weiter ausdehnt.
Die Forschenden konnten beobachten, wie sich dabei die Myofibroblasten immer genau an der Wachstumsfront befinden, also in dem Bereich des Gewebes, das sich gerade neu bildet. Auch konnten sie zeigen, wie die Myofibroblasten in diesem Bereich neue extrazellul?re Matrix bilden – zuerst in einer provisorischen und dann in einer stabilen Form – und sie sich anschliessend in Fibroblasten zurückwandeln. ?Die Vorg?nge sind ?hnlich wie jene in der menschlichen Unterhaut w?hrend der sp?ten Phase der Wundheilung?, sagt Benn.
Ausserdem konnten die Wissenschaftler:innen zeigen, dass die sich rasch ver?ndernde extrazellul?re Matrix einer der Ausl?ser ist für die Rückwandlung der Myofibroblasten in Fibroblasten. Diese Rückwandlung wird ausserdem begünstigt, wenn ein bestimmter Fasertyp der extrazellul?ren Matrix – Fibronektin – von einem gedehnten in einen entspannten Zustand wechselt. ?hnlich wechselseitige Prozesse laufen wahrscheinlich auch w?hrend der Wundheilung ab.
Schliesslich st?rten die Wissenschaftler:innen die Zellumwandlung mit verschiedenen Wirkstoffen, welche die Zusammensetzung oder Struktur der extrazellul?ren Matrix ver?ndern. Sie konnten also nachstellen, was in bestimmten Krankheitsbildern wie Fibrose oder Krebs geschieht: Dass sich die Myofibroblasten nicht wie in einem gesunden Gewebe wieder in Fibroblasten zurückwandeln, sondern dass die extrazellul?re Matrix die Myofibroblasten stabilisiert.
Künftige Mechanomedizin
Solche Minigewebekulturen sollen den Forschenden nun helfen, weitere Details des Zusammenspiels von menschlichen Zellen und ihrer extrazellul?ren Matrix zu entschlüsseln. Dies ist ein Forschungsansatz ohne Tierversuche, die sonst in der biomedizinischen Forschung h?ufig n?tig sind. Ausserdem eignet sich die Technologie, um in Zukunft Wirkstoffe zu testen. ?Es handelt sich hier um eine ?Low hanging Fruit?, ein einfach zu erreichendes Ziel?, sagt Benn. ?Wenn wir verstehen, wie sich Myofibroblasten und Fibroblasten umwandeln, und wir dies beeinflussen k?nnen, k?nnen wir bei Krankheiten wie Wundheilungsst?rungen, Fibrose und Krebs viel erreichen.?
Benn und Vogel sprechen denn auch von einer künftigen Mechanomedizin. Sie meinen damit eine medizinische Anwendung von Erkenntnissen aus der Mechanobiologie, also dem Studium, wie Zellen mechanische Signale wahrnehmen und verarbeiten k?nnen.
Und schliesslich m?chten die Forschenden damit neue Diagnosem?glichkeiten zur Früherkennung von fibrotischem Gewebe schaffen. ?Bei vielen Erkrankungen, wie zum Beispiel der Lungenfibrose, ist es für eine erfolgreiche Behandlung wichtig, dass die Krankheit frühzeitig erkannt wird?, sagt Benn. Die krankheitsverursachenden Myofibroblasten lassen sich im Lungengewebe allerdings bisher nur schlecht nachweisen. Benn hofft, dass er durch das Studium der extrazellul?ren Matrix Biomarker findet, um damit Fibrosen und ?hnliche Gewebekrankheiten früher und einfacher feststellen zu k?nnen.
Literaturhinweis
Benn MC, Pot SA, Moeller J, Yamashita T, Fonta CM, Orend G, Kollmannsberger P, Vogel V: How the mechanobiology orchestrates the iterative and reciprocal ECM-cell cross-talk that drives microtissue growth. Science Advances, 29. M?rz 2023, doi: externe Seite 10.1126/sciadv.add9275