Forensik in Sachen Vielfalt
Alle Lebewesen vom Blauwal bis zur Mikrobe hinterlassen in der Umwelt ihre Erbsubstanz, die DNA. Diese hilft Biodiversit?tsforschenden, der biologischen Vielfalt auf die Spur zu kommen.
- Vorlesen
- Anzahl der Kommentare
ETH-Doktorand Anish Kirtane steht mit etwas zu gross geschnittenen Gummistiefeln mitten in der Limmat bei der Werdinsel, unterhalb der Stadt Zürich. Ungew?hnlich warm ist es für einen Nachmittag im sp?ten September. Die Sonne glitzert auf der gekr?uselten Wasseroberfl?che, Menschen liegen am Ufer in der Sonne, manche treiben im Fluss stromabw?rts.
Kirtane h?lt einen Messbecher in die Str?mung, zieht ihn heraus, giesst Wasser ab und watet zurück ans Ufer. Dort, unter Weiden, warten Postdoktorandin Cátia Lúcio Pereira und Masterstudentin Zora Doppmann. Sie nehmen die Probe entgegen. Mit einer grossen Spritze saugt Pereira das Wasser auf und presst es sogleich durch einen flachen, rechteckigen Filter.
Doppmann zückt einen Filzstift, notiert Temperatur, Datum, Uhrzeit und Probe-Standort. Wirft einen letzten prüfenden Blick auf den Filter. Ob darin etwas enthalten ist, erkennt sie nicht – noch nicht. Erst im Labor werden die drei herausfinden, ob der Filter die Erbsubstanz von Lebewesen enth?lt. Denn darauf haben sie es abgesehen – wie Forensiker in der TV-Krimiserie ?CSI: Miami?.
Rollender Stein
Die Forschenden nützen den Umstand aus, dass jedes Lebewesen Erbgut, also DNA-Moleküle, in die Umwelt abscheidet, sei es im Kot, in Hautschuppen, in Schleim oder Zellen. Die Moleküle gelangen in den Boden, ins Wasser, ins Sediment eines Sees, sie landen auf ?sten eines Baumes. Selbst in Schwebeteilchen in der Luft sind Spuren von Erbgut enthalten.
Die Idee der Forschenden ist, aus Umweltproben DNA-Moleküle zu extrahieren und sie Baustein für Baustein zu analysieren. Mit ausgeklügelten Computerprogrammen vergleichen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schliesslich die gefundenen DNA-Sequenzen mit solchen, die in Referenz-Datenbanken enthalten sind und von denen bekannt ist, zu welcher Art oder Organismengruppe sie geh?ren. So erhalten die Forschenden Auskunft darüber, welche Lebewesen in einem bestimmten Gebiet vorkommen k?nnten.
Die Methode ist zwar nicht neu, aber sie hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend durchgesetzt. Erste Versuche, Bakterien anhand ihrer DNA aus Wasser- und Bodenproben zu bestimmen, gehen auf die sp?ten 1980er-Jahre zurück. Aber erst 2008 gelang es europ?ischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, in einer Wasserprobe die DNA eines Frosches nachzuweisen. Das verlieh dem Forschungsgebiet Fahrt.
Nicht zuletzt beflügelten neue Technologien für die rasche und umfassende DNA-Sequenzierung die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit Umwelt-DNA befassen – wie Kristy Deiner, Professorin für Umwelt-DNA der ETH Zürich. Sie leitet die Gruppe, der Anish Kirtane, Cátia Pereira und Zora Doppmann angeh?ren.
Seit 2015 werden Hochdurchsatz-Sequenzierger?te routinem?ssig für die Analyse von Umwelt-DNA eingesetzt. Diese Ger?te k?nnen unsortierte Mischungen mit Millionen von unterschiedlichen DNA-Molekülen rasch und in nur einem Durchlauf entschlüsseln. ?Früher mussten wir jeden einzelnen DNA-Strang von den anderen trennen und aufreinigen, ehe wir seine Sequenz analysieren konnten?, erinnert sich Deiner. ?Die technische Revolution hat den Stein so richtig ins Rollen gebracht.?
Günstig und schnell
Mittlerweile haben die drei Forschenden ihre Proben ins Labor gebracht. Jetzt stehen Pereira und Doppmann im Reinraum. In ihren weissen Schutzanzügen sehen sie aus wie Astronautinnen. Kirtane schaut seinen Kolleginnen durch eine Glasscheibe zu, wie sie die Filterwatte bearbeiten und mit L?sungen das DNA-haltige Material auswaschen. Danach reinigen sie Proben und pr?parieren sie, sodass die L?sung nur noch DNA enth?lt.
?Wir müssen eine Kontamination der Proben unbedingt verhindern?, erkl?rt Masterstudentin Doppmann. Schon ein winziges DNA-Stück von ihnen selbst oder von ausserhalb k?nnte die Proben unbrauchbar machen. Deshalb müssen die Forschenden erst durch eine Vakuumschleuse, dann ziehen sie die Schutzanzüge an. Erst jetzt dürfen sie den Reinraum betreten. Das dauert. Zudem wird die Luft, die in den Reinraum gepumpt wird, gefiltert. Nachts brennt UV-Licht, das unbeabsichtigt eingetragene DNA-Moleküle zersetzt. Auch die Oberfl?chen müssen nach jedem Versuch mit Bleichmittel gereinigt werden.
Mit dem Erbgut aus der Umwelt zu arbeiten, klingt aufwendig und teuer, weil es eine ausgeklügelte Laborinfrastruktur, spezielle Chemikalien und teure Instrumente braucht. Trotzdem ist der neue Ansatz schneller und günstiger als klassische Methoden, bei denen Organismen gesammelt und m?glichweise get?tet werden müssen, um die Arten bestimmen zu k?nnen. ?Die Umwelt-DNA-Analyse ist hingegen nicht invasiv. Es schadet keinem Tier und keiner Pflanze, wenn wir ihre DNA aus Wasser- oder Bodenproben extrahieren?, sagt Deiner. Und nicht zuletzt brauchen die Forschenden nur sehr kleine DNA-Mengen, um eine Art festzustellen.
Auch die Probennahme ist einfach. Das m?chten Deiner und ihre Mitarbeitenden nutzen. In einem Projekt, das bald startet und für das die ETH-Professorin einen ERC Starting Grant eingeworben hat, m?chte sie die Forschung mit Umwelt-DNA ?ffnen. Am Projekt beteiligen sich neben Profis auch Laienforschende in aller Welt. Am weltweiten Tag der Artenvielfalt am 22. Mai 2024 sollen sie in 1200 Seen rund um den Globus Wasserproben nehmen, das Wasser vor Ort filtrieren und die Filter zur Analyse an die ETH Zürich schicken. Hier wird die DNA extrahiert, entschlüsselt und mit Referenzdaten verglichen. ?Das ist ein sch?nes Beispiel für ein Citizen-Science-Projekt?, betont Pereira, die dieses koordiniert und an den Analysen beteiligt ist.
Ein Ziel ist, m?glichst viele Arten zu identifizieren und die Artenzusammensetzung der verschiedenen Sammelorte zu vergleichen. Zudem prüfen die Forschenden, ob ein auf Umwelt-DNA basierendes Monitoringsystem in einem globalen Massstab machbar ist. Als Gegenleistung für ihren Einsatz erhalten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Zugang zu den Daten und die Informationen darüber, welche Arten in ihren Proben nachgewiesen wurden.
Buchstabensuppe auf dem Bildschirm
Nachdem sich die Forscherinnen aus ihren Schutzanzügen herausgesch?lt haben, nehmen sie die Proben und wechseln ins Genetic Diversity Center, zwei Stockwerke tiefer. In einem der R?ume steht ein unscheinbarer Kasten – eines der teuren Sequenzierger?te. ?Wenn wir hier unten waren, dürfen wir nicht mehr in den Reinraum, selbst wenn wir etwas vergessen haben. Wir müssen also den Ablauf gut planen?, sagt Cátia Pereira.
Sie tippt mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm vor sich. Der Computer hat DNA-Sequenzen aus einer früheren Wasserprobe ausgespuckt. Das Dokument zeigt endlose Abfolgen der immer vier gleichen Buchstaben A, C, G und T, die für die vier Bausteine des Erbguts stehen. Ein Vergleich mit Referenzdaten hat Pereira gezeigt, dass sich eine der Sequenzen einem Baum, der Platane, zuweisen l?sst, eine andere einer Brennnessel. Andere Sequenzen haben keinen Namen. ?Hier k?nnen wir momentan nicht sagen, um welche Art oder Gruppe es sich handelt?, sagt sie. Die Referenzdatenbanken h?tten noch etliche Lücken. Daher hoffen die ETH-Forschenden, dass eines Tages andere Forschende Genom-Referenzdaten von verschiedensten Organismen systematisch aufarbeiten und in ?ffentlichen Datenbanken speichern.
Dennoch ist Pereira überzeugt, dass die Umwelt-DNA-Methode die Art und Weise, wie die Wissenschaft Biodiversit?t erfasst, grundlegend ver?ndert. Zwar werde der Ansatz die herk?mmlichen Methoden nicht ersetzen. ?Der Umwelt-DNA-Ansatz wird sie erg?nzen. Experten in Taxonomie und ?kologie sind nach wie vor wichtig, denn eine Artenliste macht nur im Zusammenhang mit dem jeweiligen Lebensraum Sinn.?
ETH-Spin-off nutzt Umwelt-DNA-Analyse
Der Umwelt-DNA-Ansatz eignet sich nicht nur für die akademische Forschung. 2021 hat Kristy Deiner zusammen mit zwei Kolleg:innen das Spin-off externe Seite SimplexDNA AG gegründet. Zu den Dienstleistungen des jungen Unternehmens z?hlen unter anderem Analysen der biologischen Vielfalt des Bodens, das Monitoring der Fischvielfalt sowie ein Quagga-Service. Mit Letzterem überwachen die Forschenden, wo in Schweizer Gew?ssern die invasive Quagga-Muschel auftaucht.
?Globe? Mensch im Mittelpunkt
Dieser Text ist in der Ausgabe 23/04 des ETH-????Magazins Globe erschienen.