Lasst uns über Lösungen sprechen
Immer mehr Menschen haben Angst vor dem Klimawandel. Für Cyril Brunner h?ngt das auch mit unserem Klimadiskurs zusammen. Wir sollten weniger auf Probleme fokussieren und stattdessen mehr über L?sungen diskutieren, schl?gt der Klimaforscher zum Jahresbeginn vor.
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Die Klimakrise kann zermürbend sein. Seit Jahren dokumentiert die Wissenschaft akribisch, wie sich die Erde immer schneller erw?rmt. Ein unrühmlicher Klimarekord jagt dabei den anderen. 2023 war mit Abstand das w?rmste Jahr seit Messbeginn. Die Folgen sind als Wetterextreme überall auf der Erde spürbar. Derweil steigen die globalen Treibhausgasemissionen weiter an, w?hrend griffige Massnahmen der internationalen Klimapolitik noch immer fehlen.
Medien berichten über den Klimawandel, indem sie vor allem über dessen Ausmass und Gefahren informieren und dabei auf Extremereignisse, Katastrophen und Rekorde fokussieren. Die negativen Botschaften be?ngstigen und deprimieren. Die Reaktionen darauf sind vielf?ltig. Einige sind gleichgültig, andere wenden sich ab, manche zweifeln. Mehr und mehr Menschen machen sich ernsthaft Sorgen um ihre Zukunft oder jene ihrer Kinder. Man spricht von Klimaangst oder Eco-Anxiety.
Betroffene sind von der Flut an Hiobsbotschaften überfordert. Sie verlieren die Hoffnung und damit den Antrieb, sich dafür einzusetzen, was ihnen wichtig ist. Als Klimaforscher bereitet mir diese Entwicklung fast gr?ssere Sorgen als der Klimawandel selbst.
Ich spreche oft mit Menschen über ihre Einstellungen zum Klimawandel. Viele reagieren erstaunt, wenn sie merken, dass ich selbst trotz meiner Arbeit mit diesem krisenbehafteten Thema keine Angst verspüre, sondern im Gegenteil hoffnungsvoll bin. Meistens werde ich dann gefragt, warum das so ist.
Zun?chst m?chte ich betonen, dass es für mich ein Privileg ist, keine Angst zu haben – denn man kann das nicht bewusst entscheiden. Studien zeigen, dass Fachwissen hilft.1 Je mehr eine Person über das Klima weiss, desto weniger Klimaangst hat sie. Doch das allein reicht nicht.
Ich vermute, es liegt bei mir vor allem daran, dass ich an wirksamen Klimastrategien forschen kann. Wenn man sich mit L?sungen befasst, ver?ndert das den Blickwinkel: Die Krise erscheint nicht ausweglos, es ?ffnen sich Perspektiven. Verbesserung wird m?glich, und Fortschritte, wenn auch kleine, werden sichtbar.
Klimal?sungen statt Klimaangst
So untersuche ich, wie verschiedene Treibhausgase wirken, und verstehe, dass Netto-Null CO2-Emissionen ausreichen, um eine weitere Erw?rmung der Atmosph?re zu verhindern2 – selbst wenn die bis zwei Grad erwarteten Kippelemente aktiv würden.3, 4
Oder ich sehe den langsamen, aber stetigen Fortschritt bei den staatlichen Klimaversprechen, mit denen wir nicht mehr bei 4 bis 5 Grad Erw?rmung landen, sondern bei zirka 1.9 Grad5 – das ist zwar immer noch viel zu heiss und erst ein Versprechen, aber immerhin ein Fortschritt.
Ich bin mir auch der 1100 Milliarden Dollar bewusst, die letztes Jahr in Klimaschutzmassnahmen investiert wurden, haupts?chlich von China. Und ich stelle fest, dass immer mehr Unternehmen robuste Klimastrategien verfolgen und entsprechende Standards über Zulieferketten verbreiten.
Das ist nur eine Auswahl von positiven Aspekten, die mich motivieren. Ich will die Lage damit nicht kleinreden. Es gibt auch vieles, das mich zermürbt. So haben bislang erst zwei Dutzend Staaten damit begonnen, ihre Treibhausgasemissionen wirklich zu senken. Die Herausforderungen sind riesig und die Fortschritte viel zu langsam.
?Anstatt das Problem in all seine Facetten zu sezieren und in jedem Extremereignis gleich den Worst-Case heraufzubeschw?ren, sollten wir uns den L?sungen widmen und dem, was wir gewinnen.?Cyril Brunner
Andererseits stehen wir nicht mehr am Anfang. In den vergangenen zehn Jahren hat sich klimapolitisch viel getan. Die Existenz des menschengemachten Klimawandels, noch vor kurzem in gewissen Kreisen umstritten, ist inzwischen breit akzeptiert. Und dass der Abschlusstext einer Weltklimakonferenz einen (wenn auch v?llig unverbindlichen) Aufruf zu Abkehr fossilen Brennstoffen enth?lt, w?re zuvor schlicht undenkbar gewesen.
Für einen konstruktiven L?sungsdiskurs
So scheint mir der Moment richtig, um unseren gesellschaftlichen Diskurs anzupassen. Anstatt das Problem in all seine Facetten zu sezieren und in jedem Extremereignis gleich den Worst-Case heraufzubeschw?ren, sollten wir uns den L?sungen widmen und dem, was wir gewinnen. Frei nach Steve de Shazer: “Problem talk creates problems, solution talk creates solutions”.
?brigens, die allermeisten L?sungen sind da. Wir brauchen sie nicht erst zu erfinden. Allerdings müssen wir als Gesellschaft eine Auswahl treffen: Wie sehr wollen wir auf emissionsarme Technologien setzen, wie stark auf Genügsamkeit? Wie viel Solar, Wind, Wasser, Geothermie oder Kernenergie? Was davon im Inland, was im Ausland? Hier Kompromisse zu finden, die für wenige perfekt, aber für die Gesellschaft als Ganzes tragf?hig sind, ist jedoch herausfordernd.
Ein konstruktiver L?sungsdiskurs hilft uns dabei in mehrfacher Hinsicht: Er f?rdert Zuversicht, erm?glicht Klimaschutz und lindert Klimaangst.
1 externe Seite Environmental knowledge is inversely associated with climate change anxiety. Climatic Change (2023)
2 Siehe externe Seite IPCC (2021) AR6 WGI Ch. 4.7.1
3 Siehe externe Seite IPCC (2021) AR6 WGI Ch. 5.4.7ff
4 Anmerkung: Netto-Null CO2 sowie eine starke Reduktion der anderen Treibhausgasemissionen sind selbst mit den erwarteten Kippelementen ausreichend, um die Erw?rmung bis mindestens zwei Grad zu stabilisieren, weil die bis dann wahrscheinlich aktiven Kippelemente im Vergleich zum aktuellen CO2-Ausstoss viel langsamer und deutlich kleiner sind. Mehr dazu: externe Seite Wang et al. (2023) und externe Seite Jenkins et al. (2022)
5 Meinshausen et al. externe Seite Realization of Paris Agreement pledges may limit warming just below 2?°C. Nature (2022)