Dammbruch von Brumadinho: Die Gefahr kam nach der Stilllegung
2019 barst in einer brasilianischen Eisenerzmine der Damm eines Absetzbeckens. Die Schlammlawine führte zu einer Katastrophe für Mensch und Umwelt. Ein Forscherteam der ETH Zürich hat jetzt den physikalischen Mechanismus aufgekl?rt, der das Unglück ausgel?st haben dürfte.
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In Kürze
- Warum genau der Damm von Brumadinho drei Jahre nach der letzten Beladung des Beckens mit Material kollabierte, war bislang unklar.
- Mit Modellen haben ETH-Forscher einen physikalischen Mechanismus und Einflussfaktoren identifiziert, die den verz?gerten Dammbruch erkl?ren.
- Der Ansatz kann künftig zur Risikobewertung von bestehenden stillgelegten Absetzbecken verwendet werden.
Die Katastrophe unweit der Kleinstadt Brumadinho im Südosten Brasiliens ereignete sich kurz nach Mittag: Am 25. Januar 2019 barst in einer Eisenerzmine der Damm eines Absetzbeckens, in dem schlammige, feink?rnige Rückst?nde aus der Erzaufbereitung (‘Tailings’) lagerten. Eine gewaltige Lawine aus rund zehn Millionen Kubikmetern Schlamm überschwemmte das Minengel?nde, zerst?rte benachbarte Siedlungen und riss eine Eisenbahnbrücke mit sich. Mindestens 270 Menschen fanden den Tod. Das ?kosystem des Paraopeba-Flusses unterhalb der Mine wurde ruiniert. Obwohl der Damm mit einem Monitoringsystem überwacht wurde, hatte niemand die Katastrophe vorhergesehen.
Der Dammbruch von Brumadinho zog mehrere Prozesse gegen die Minengesellschaft Vale und die Prüforganisation T?V Süd nach sich. Letztere hatte dem Staudamm noch kurz vor dem Unglück eine hinreichende Standfestigkeit attestiert. Vale wurde zu einer Schadenersatzzahlung von umgerechnet rund sechs Milliarden Euro verurteilt. Ein Untersuchungsausschuss vermutete langsame mikroskopische Verschiebungen (sogenanntes Kriechen) in den abgelagerten Tailingsschichten als Ursache des Unglücks, konnte dies aber nicht mit einem glaubwürdigen physikalischen Mechanismus belegen. Insbesondere blieb unklar, warum der Damm ausgerechnet im Jahr 2019 brach – also erst drei Jahre nachdem das Absetzbecken letztmals mit neuen Tailings beladen worden war, und warum vor dem Dammbruch keine signifikanten Verschiebungen festgestellt wurden.
Physikalischen Mechanismus aufgekl?rt
Aufkl?rung der Katastrophe von Brumadinho leistet nun eine Studie von Professor Alexander Puzrin, Vorsteher des Instituts für Geotechnik der ETH Zürich und Experte für die Modellierung von Erdrutschen. Die Arbeit erscheint im Fachmagazin externe Seite Communications of Earth and Environment. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Ursachen des Dammbruchs mit einem Modell untersucht und dabei einen physikalischen Mechanismus identifiziert, der das Bergbauunglück erkl?rt.
Das Absetzbecken für Tailings war ab 1976 errichtet worden. Wie in der Erzgewinnung üblich, wurde der Erddamm des Beckens in den folgenden Jahren mehrfach um einige Meter aufgestockt, um zus?tzlichen Platz für die Einlagerung von Aufbereitungsrückst?nden zu schaffen. Dabei wurden die Dammstufen ?hnlich wie die Stufen einer Treppe aufeinandergesetzt (Upstream-Prinzip). Zuletzt bestand der Damm aus zehn Stufen und war 86 Meter hoch. Als das Bauwerk im Januar 2019 brach, geschah dies zuerst auf der H?he der zweiten Dammstufe. In der Folge kollabierten s?mtliche zehn Stufen des Erddamms und w?lzten sich zusammen mit den aufgestauten Tailings als Schlammlawine ins Tal.
Kriechverformungen nach der Stilllegung
Die Arbeit des Teams um Alexander Puzrin zeigt nun, wie es soweit kommen konnte. Gem?ss den neuen Erkenntnissen entstanden bereits beim Bau des Damms auf der H?he der zweiten Dammstufe in den aufgestauten Tailings einige Gleitfl?chen. Diese hatten über Jahrzehnte nur ein begrenztes Ausmass und blieben unauff?llig. Nach der Stilllegung des Absetzbeckens im Jahr 2016 aber – so legen die Modellierungen des ETH-Teams nahe – weiteten sich die Gleitfl?chen horizontal aus und erreichten schliesslich eine kritische Ausdehnung. In der Folge setzten sich die Tailingsschichten in Bewegung, liessen den Damm durch ihr Gewicht bersten und verursachten die todbringende Schlammlawine.
Die Ursache für das Wachstum der Gleitfl?che sind nach dem Modell sogenannte Kriechverformungen. Das sind kleinste, langsame Erdverschiebungen in den feink?rnigen, spr?den Tailings, die durch die ungleiche Druckverteilung in den darüber liegenden Ablagerungen hervorgerufen werden. ?Andere Ausl?ser wie Regenf?lle und Bohrungen k?nnen das Wachstum der Gleitfl?che zwar beschleunigen?, sagt Puzrin, ?aber unser Modell zeigt, dass Kriechverformungen allein ausreichen, damit die Gleitfl?che die kritische Ausdehnung für einen Dammbruch erreicht.?
Der Befund ist in doppelter Hinsicht beunruhigend: Die für die Katastrophe urs?chliche Gleitfl?che entstand offenbar zu einem Zeitpunkt, als das Absetzbecken nicht mehr mit neuen Tailings beladen wurde, also ohne zus?tzliche ?ussere Belastung. Und: Das Wachstum der Gleitfl?che führte zu keiner deutlichen ?usseren Verformung des Damms, welche das Monitoringsystem h?tte erkennen k?nnen.
ETH-Modell erm?glicht Risikoanalyse
Absetzbecken für Aufbereitungsrückst?nde aus dem Abbau von Eisenerz und anderen mineralischen Gesteinen werden weltweit in grosser Zahl genutzt. Seit 2000 wurden j?hrlich fünf bis sechs F?lle registriert, in denen D?mme aus verschiedenen Gründen besch?digt wurden oder versagten. Nach der Katastrophe von Brumadinho und ?hnlichen Unglücken hat Brasilien Absetzbecken mit D?mmen nach dem Upstream-Prinzip stillgelegt. Die ETH-Studie zeigt nun allerdings, dass die Gefahr keineswegs gebannt ist, wenn ein Absetzbecken nicht mehr mit neuen Tailings beladen wird.
Dammbrüche wie in Brumadinho lassen sich durch klassische Monitoringsysteme bisher nicht vorhersehen. Die ETH-Studie schafft hier nun neue M?glichkeiten: ?Unser Modell kann für bestehende D?mme eine Risikoanalyse durchführen und die Wahrscheinlichkeit eines Dammbruchs vorhersagen?, sagt Puzrin. Wird ein hohes Risiko festgestellt, sind verschiedene Massnahmen denkbar: Die Gefahr l?sst sich durch Abpumpen des Wassers aus den Bohrungen in Absetzbecken reduzieren. Oder das Absetzbecken wird zurückgebaut. In dringenden F?llen k?nnen gef?hrdete D?rfer zum Schutz der Bev?lkerung vorübergehend evakuiert werden, bis die Gefahr gebannt ist.
Beitrag zu Sicherheit von Erdd?mmen
Die Erkenntnisse der ETH-?Studie sind relevant für alle Absetzbecken für Aufbereitungsrückst?nde aus dem Erzabbau. Denn immer wenn die Rückst?nde aus feink?rnigem, spr?dem Material bestehen, k?nnen sich im ungünstigen Fall Gleitfl?chen bilden, über die das abgelagerte Material ins Rutschen ger?t und den Damm besch?digt.
Nicht direkt vergleichbar ist die Situation bei Stauseen, bei denen ein Erddamm Wasser aufstaut. Allerdings k?nnen die neuen Erkenntnisse auch hier einen Beitrag zur Sicherheit leisten, wie Alexander Puzrin festh?lt: ?Unsere Erkenntnisse geben Hinweise, wie die Sicherheit von Erdd?mmen im Erdbebenfall weiter verbessert werden kann. Insofern leistet unsere Arbeit einen Beitrag zur generellen Sicherheit von Stauanlagen.?
Literaturhinweis
Zhu F, Zhang W and Puzrin AM. (2023) The slip surface mechanism of delayed failure of the Brumadinho tailings dam in 2019, Communications of Earth and Environment. doi: externe Seite 10.1038/s43247-023-01086-9