Wenn Steine ins Rollen kommen
Der Bergsturz von Brienz (GR) hat die Schweiz 2023 wochenlang in Atem gehalten. Mit einem Modell konnten Forschende des ETH-Bereichs blind pr?zise vorhersagen, wo das Bergsturzmaterial stoppen wird. ETH-Professor Johan Gaume erkl?rt, wie das Modell funktioniert und wo seine Grenzen liegen.
- Vorlesen
- Anzahl der Kommentare
Johan Gaume, Professor für Alpine Massenbewegungen an der ETH Zürich und am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos, besch?ftigt sich mit Lawinen, Erdrutschungen sowie granul?ren und Schuttflüssen. Um abzusch?tzen, welche Gebiete durch solche Naturkatastrophen gef?hrdet sein k?nnten, haben er und seine Mitarbeitenden eine neue Simulationssoftware entwickelt. Damit konnten sie im Fall von Brienz kurz vor dem Bergsturz vorhersagen, wie weit die Gesteinslawine gelangen k?nnte – und das reale Ereignis stützte die Simulation schliesslich auch ?empirisch?. Im Interview erkl?rt der Forscher, wie sein Modell funktioniert und weshalb er sich im vergangenen Sommer, als der Bergsturz aktuell war, mit der Kommunikation zurückhielt.
ETH-News: Mit Ihrem neuen Modell konnten Sie vor dem eigentlichen Bergsturz von Brienz fast auf den Meter genau vorhersagen, wo das Gesteinsmaterial zum Stillstand kommen würde. Was ist das Geheimnis dieses Modells?
Johan Gaume: Bisherige Modelle sind zweidimensional mit empirischen Reibungsgesetzen, deren Parameter in der Regel auf der Grundlage von Daten aus vergangenen Ereignissen zurückgerechnet werden. Da sich reale Ereignisse unter gleichen Bedingungen nicht beliebig oft wiederholen, ist die Kalibrierung nicht einfach und die Unsicherheiten bei der Modellierung entsprechend gross. Unser Modell hingegen orientiert sich an den beteiligten Materialien Eis, Schnee oder Fels, ist vollst?ndig dreidimensional und ben?tigt im Wesentlichen nur drei Komponenten: ein digitales H?henmodell zur Darstellung der Topografie, das Volumen des freigesetzten Materials und verschiedene mechanische Eigenschaften wie Reibung und Festigkeit des Materials. Diese Eigenschaften k?nnen mit klassischen geotechnischen Laborversuchen ermittelt werden.
Wurde das Modell speziell für den Fall Brienz entwickelt?
Nein, es wurde ursprünglich für die Simulation von Schneelawinen entwickelt. Da unser Code aber materialorientiert ist, ist es relativ einfach, ein anderes Materialmodell einzufügen und das Verhalten von Felsen, Eis und Wasser zu simulieren.
Warum war Brienz für Sie so wichtig?
Brienz war für uns die Gelegenheit, einen Beitrag zu diesem Fall zu leisten und zu testen, wie genau unser Modell solche Ereignisse vorhersagt. Bis vor kurzem konnten wir es nur anhand externe Seite vergangener Ereignisse testen. Deshalb war Brienz für uns besonders interessant. Aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit eines Grossereignisses haben wir mit unseren Simulationen eine Blindprognose gemacht und unsere Ergebnisse den Kantonsbeh?rden übermittelt.
Wie sah diese Prognose aus?
Wir haben zwei Szenarien erstellt: ein trockenes und ein pessimistisches mit viel Wasser, das die Beweglichkeit des Gesteinsmaterials erh?ht. Für den Fall eines trockenen Bergsturzes sagten wir voraus, dass die Felslawine ungef?hr 20 Meter vor dem Dorf zum Stillstand kommen würde. Unser zweites Szenario zeigte aber, dass bei einer grossen Wassermenge mehr als die H?lfte des Dorfes durch den Felssturz betroffen sein k?nnte.
Das klingt nach einer hohen Vorhersagegenauigkeit für ein trockenes Szenario. Wie realit?tsnah ist Ihr Modell?
Obwohl wir erfreulicherweise feststellen konnten, dass sich unsere Simulation gut mit der Realit?t deckt, waren unsere Modellierungsergebnisse nicht perfekt und enthielten einige Unstimmigkeiten. Zum Beispiel wurde das Materialvolumen in unserer Simulation leicht übersch?tzt. Ausserdem hat unser Modell eine st?rkere seitliche Ausbreitung aufgewiesen, als wir sie in der Realit?t beobachtet haben.
Im vergangenen Sommer haben Sie die Prognosen zurückgehalten. Warum?
Einerseits war ich begeistert, dass unsere Simulation so genau war. Wir haben jahrelang daran gearbeitet, deshalb wollte ich einerseits den Erfolg im Fall Brienz kommunizieren. Andererseits gab es grosse Unsicherheiten, wie zum Beispiel die Frage nach dem Wasser und das Ausl?seszenario. W?re viel Wasser im Spiel gewesen, w?re die Simulation ziemlich ungenau geworden, weil es ihr an einer vollst?ndigen hydromechanischen Kopplung fehlt. Daran arbeiten wir derzeit. Ich habe aber auch mit der Kommunikation gez?gert, weil der politische Aspekt heikel war. Die Menschen vor Ort h?tten eine solche Botschaft missverstehen k?nnen. Selbst wenn mein Modell vorhersagen würde, dass ein grosser Felssturz stattfinden und 20 Meter von meinem Haus entfernt stoppen wird, würde ich evakuieren, weil zu viele Unsicherheiten bestehen.
Wie lange haben Sie an diesem Modell gearbeitet?
Seit 2017 arbeite ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen vom SLF und der Universit?t von Kalifornien Los Angeles (UCLA) an einer neuen Generation von Computermodellen, die alpine Massenbewegungen m?glichst genau simulieren. Dazu geh?ren Schnee-, Eis-, Stein- und Murg?nge sowie Kaskaden, bei denen ein Prozess wie eine Stein-Eislawine einen Murgang ausl?st. Generell besch?ftige ich mich seit langem mit Modellierungen, die sich auf die Ausl?sung und Dynamik von Massenbewegungen in den Alpen beziehen.
Wie l?sst sich das Modell verbessern?
Für Brienz ist ein Postdoc in meiner Gruppe an der ETH und am SLF daran, die Daten neu zu analysieren. Wir werden zus?tzliche Simulationen durchführen, um unsere Vorhersagen zu evaluieren und zu sehen, was wir besser h?tten machen k?nnen. Unsere Blindsimulationen und die anschliessenden Analysen werden wir diesen Sommer an der Interpraevent-Konferenz in Wien pr?sentieren. Darüber hinaus entwickeln wir derzeit weitere Modelle, in denen wir Feststoffe und Flüssigkeiten gleichzeitig kombinieren k?nnen, so dass wir eine Mischung aus einer z?hen Flüssigkeit und groben, gr?sseren Partikeln, also Gesteinsbrocken, erhalten. Au?erdem erweitern wir unsere Modelle, um die Auswirkungen der Klimaerw?rmung besser untersuchen zu k?nnen. Dazu brauchen wir Modelle, die die Wechselwirkung zwischen flüssiger und fester Phase simulieren, aber auch Phasenwechsel von fest zu flüssig oder Temperatureffekte erfassen. Und nicht zuletzt arbeiten wir daran, Prozesskaskaden zu simulieren, wie sie sich am Piz Cengalo ob Bondo abgespielt haben. Bei solchen Kaskaden l?st ein Ereignis ein anderes aus, und dieses wiederum ein weiteres. Solche katastrophalen Prozesskaskaden k?nnten durch den Klimawandel h?ufiger und heftiger werden. Sie beginnen hoch oben im Alpenraum und k?nnten als Gemisch aus flüssigen und festen Bestandteilen ins Tal fliessen.
Stellen Sie ihre Modelle der Praxis zur Verfügung?
Damit wir die Modelle der Praxis zur Verfügung stellen k?nnen, müssen wir zuerst deren Anwendung vereinfachen. Wir werden bald damit beginnen, eine graphische Benutzeroberfl?che zu entwickeln, damit sie anwenderfreundlich werden. Zudem wollen wir die Effizienz unseres Codes verbessern. Die Brienz-Simulation hatte zum Beispiel eine Aufl?sung von zwei Metern und umfasste etwa zwei Millionen Partikel. Ein guter Büro-Computer ben?tigte weniger als zehn Minuten für die Ausführung. Eine Version, die Grafikprozessoren und KI-Werkzeuge nutzen k?nnte, würde es uns erm?glichen, entweder die Aufl?sung zu verbessern oder Simulationsergebnisse in weniger als einer Minute verfügbar zu machen.
Wie werden Sie das Modell künftig einsetzen?
Wir setzen unser Modell für die Forschung und für die Beratung ein. Wir hatten einige Anfragen von kantonalen ?mtern und Ingenieurbüros, um Simulationen in F?llen durchzuführen, in denen klassische Ans?tze schwierig sind. Die meisten unserer Arbeiten beziehen sich jedoch im Moment auf die Forschung. Angesichts der vorgesehenen Verbesserungen und Entwicklungen vermute ich, dass sich auch die Praxis für unser Modell interessieren k?nnte.
Auf welche anderen F?lle k?nnten Sie Ihr Modell in der Schweiz oder in den Alpen in naher Zukunft anwenden?
Derzeit sind wir Teil des wichtigen WSL-Projekts Climate Change Impacts on Mass Movements, in dem wir Szenarien und Simulationen im Raum Kandersteg am Spitze Stei oberhalb des Oeschinensees durchführen, wo ein Felshang instabil ist. Hier simulieren wir eine potenzielle massive Steinlawine, die eventuell den See erreichen und einen Tsunami ausl?sen k?nnte. Das k?nnte ges?ttigte Sedimente mitreissen und einen Murgang verursachen, der das Dorf Kandersteg bedrohen k?nnte.
Literaturhinweis
Cicoira A, Blatny L, Li X, Trottet B, Gaume J. Towards a predictive multi-phase model for alpine mass movements and process cascades, Engineering Geology, Volume 310, 2022, 106866, doi: externe Seite 10.1016/j.enggeo.2022.106866