Wie die Ukraine ihr Energiesystem wiederaufbauen kann
ETH-Forschende haben mit Forschenden aus der Ukraine und Deutschland untersucht, wie sich die zerst?rte ukrainische Energieinfrastruktur mit erneuerbarer Energie wiederaufbauen l?sst. Demnach erm?glichen Solar- und Windkraft eine schnelle, dezentrale Versorgung und beugen der Korruption vor.
In Kürze
- In einer Studie erl?utern die Forschenden, warum erneuerbare Energien beim Wiederaufbau des ukrainischen Stromsystems im Vordergrund stehen sollten. Mittels detaillierter Karten zeigen sie den Zustand vor dem Krieg sowie das Ausmass der Zerst?rung und das Potential der Sonnen- und Windenergie.
- Solar- und Windenergie erm?glichen ihrer Studie zufolge eine dezentrale, in Konflikten belastbare Stromversorgung, die der lokalen Bev?lkerung dient.
- Die Forschungsergebnisse k?nnen eine wissenschaftliche Grundlage bilden, um konkrete Energieprojekte auszuw?hlen und die Energieinfrastruktur wiederaufzubauen.
Die Energieinfrastruktur z?hlt zu den Hauptzielen der russischen Angriffe auf die Ukraine. Das Ausmass der Zerst?rung ist enorm. ?Ein Jahr nach dem Beginn des Kriegs im Februar 2022 waren 76 Prozent der thermischen Kraftwerke zerst?rt, inzwischen sind es 95 Prozent?, sagt die ukrainische Wissenschaftlerin Iryna Doronina: ?Und auch s?mtliche grossen Wasserkraftwerke sind ausgefallen.? Als besonders verheerend erwies sich die Sprengung des Kachowka-Staudamms. Die riesige, ausfliessende Wassermenge – die Fl?che des Stausees war 1,5-mal gr?sser als der Kanton Zürich – zerst?rte Tausende von H?usern und verwandelte den Stausee in eine Wüste.
Iryna Doronina, die vor dem Krieg Dozentin an der Nationalen Wirtschaftsuniversit?t Kiew war, kam 2022 als ?SNF Scholar at Risk? an die ETH Zürich. Dieses Programm erm?glicht es Schweizer Hochschulen, bedrohte Forscher:innen mit finanzieller Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds befristet anzustellen. Bis 2024 forschte Doronina in der Folge als Senior Researcher am ETH-Institut für Wissenschaft, Technologie und Politik (ISPT). Heute forscht sie an der Technischen Universit?t München (TUM). In Zürich arbeitete sie eng mit den Gruppen von Adrienne Grêt-Regamey, Professorin für die Planung von Landschaften und Umweltsystemen (PLUS), und Tobias Schmidt, Professor für Energie- und Technologiepolitik und Leiter des ISTP, zusammen.
Dabei untersuchten die Forschenden namentlich die Frage, warum erneuerbare Energien beim Wiederaufbau des ukrainischen Stromsystems im Vordergrund stehen sollten. Die entsprechenden Erkenntnisse sind nun in Joule erschienen, einem führenden Journal für Energieforschung. Zur Publikation trugen auch Forschende der TU München und der Universit?t Bayreuth wesentlich bei. ?Wir stellen fest, dass seit Februar 2022 praktisch alle grossen, zentralisierten Kraftwerke angegriffen wurden. Dadurch sank die gesamte Stromproduktionskapazit?t auf etwa ein Drittel des Vorkriegsniveaus?, sagt Tobias Schmidt, ?und auch das Netz wurde durch Angriffe auf ?bertragungsleitungen und Umspannwerke besonders im Osten erheblich geschw?cht.?
Kapazit?tsreserven sind ein Schlüssel zum ?berleben
In ihrer Studie verbanden die Forschenden geor?umliche und politische Analysen. ?Unsere Studie pr?sentiert die erste umfassende und geor?umliche Kartierung des ukrainischen Elektrizit?tssystems im Februar 2022 und der folgenden Zerst?rung im Krieg?, sagt Adrienne Grêt-Regamey, ?ausserdem zeigen wir das Potenzial der erneuerbaren Energien für die Ukraine auf und benennen die politischen und regulatorischen Voraussetzungen, die erforderlich sind, um Investitionen zur erleichtern.?
Im ersten Schritt erstellten die Forschenden eine detaillierte Karte der ukrainischen Energieinfrastruktur vor 2022. ?Wir wollten wissen, wie gross die installierte Energiekapazit?t war und kartierten 1626 Objekte?, erz?hlt Doronina: ?Diese Informationen zu Anlagen, Standorten, Leistung, Produktion und Verbrauch dienen als Grundlage für die weiteren Analysen.? Mit 59 Gigawatt installierter Kraftwerksleistung z?hlte die Ukraine vor 2022 zu den gr?ssten Energieproduzenten in Europa. Das Land selbst ben?tigte 22 Gigawatt. ?Die Ukraine hatte also erhebliche Kapazit?tsreserven. Diese haben meinem Land geholfen, w?hrend des Krieges zu überleben?, fasst Iryna Doronina zusammen.
Eine wichtige Rolle spielt die Kernkraft. Zwar wurde Saporischschja, Europas gr?sstes Kernkraftwerk im Südwesten der Ukraine, von russischen Truppen besetzt, und liefert seit September 2022 keinen Strom mehr. Doch es bleiben drei Kernkraftwerke im Osten und Süden mit sieben Reaktoren in Betrieb und versorgen die Ukraine weiterhin mit Strom. Allerdings greift Russland immer wieder das Verteilernetz an, was zu stundenlangen Stromausf?llen führt, so auch in der Hauptstadt Kyjiw. ?Deshalb sollte die Ukraine eine dezentralisierte Stromversorgung entwickeln?, sagt Iryna Doronina. Ein zentralisiertes System l?sst sich einfacher angreifen, wohingegen voneinander unabh?ngige Anlagen kriegs- und krisenresistenter sind.
?bergang zum dezentralisierten Energiesystem
Erneuerbare Energien wie Solar- und Windkraftanlagen eignen sich besonders für eine dezentralisierte Infrastruktur und lassen sich viel schneller installieren als zentrale konventionelle Anlagen. ?Die Gemeinden müssen jedoch die M?glichkeit haben, auf ihrem Gebiet genügend erneuerbare Energie zu produzieren, um ihren Verbrauch zu decken?, schliesst Doronina.
Die Forschenden erstellten hochaufl?sende Karten für verschiedene Regionen der Ukraine. Diese bilden ab, in welchen Gebieten die Erzeugung von Solar- und Windenergie am günstigsten ist. Das Team berücksichtige dabei verschiedene Kriterien wie H?he und Topografie, Bev?lkerungsdichte, Entfernung zu Siedlungen oder Stromnetzen. ?Wir haben Schutzgebiete und staatliche landwirtschaftliche Fl?chen sorgf?ltig geprüft und sichergestellt, dass die Anforderungen und Beschr?nkungen der ukrainischen Gesetzgebung vollst?ndig eingehalten werden?, erkl?rt Doronina.
Riesiges Potential von Solar- und Windenergie
In einem zweiten Schritt sch?tzten die Forschenden die m?gliche Energieleistung nach Regionen ein. Dieses technische Potential ist enorm. So sch?tzen die Forschenden, dass das Potenzial der Windenergie rund 180 Gigawatt betr?gt und dasjenige für Solarenergie rund 39 Gigawatt. Eine solche Gesamtkapazit?t von 219 Gigawatt übertr?fe die Produktionskapazit?t von 59 Gigawatt, die die Ukraine bei Kriegsbeginn erzielte, um ein Vielfaches. Schliesslich stellen die Forschenden fest, dass das Potenzial der erneuerbaren Energien in allen regionalen Stromnetzen die im Krieg zerst?rte Stromproduktionskapazit?t bei weitem übersteigt.
Die Forschenden nutzen das technische Potenzial auf regionaler Ebene zusammen mit sozio-politischen, wirtschaftlichen, ?kologischen und technologischen Faktoren, um zu bestimmen, welche Regionen für den ?bergang der Ukraine zu erneuerbaren Energiesystemen am geeignetsten sind. Regional gesehen liegt das gr?sste Potenzial für Solar- und Windenergie im Süden und Osten der Ukraine.
Ein neues, gut geführtes Energiesystem unterstützen
Bisher hingegen sei die ukrainische Energieinfrastruktur von ein bis zwei Oligarchen monopolisiert worden. ?Diese kontrollierten den nationalen Energiemarkt und arbeiteten mit Russland zusammen. Das war auch ein N?hrboden für Korruption?, erkl?rt Vasyl Doronin, Leiter der nichtstaatlichen, ukrainischen Organisation für Wasserstoff und Co-Autor der Studie.
?Die Transparenz unserer Ergebnisse verringert das Korruptionsrisiko, da die vorgeschlagenen Ans?tze, um die Gebiete mit gr?sserem Potenzial und dringendem Sanierungsbedarf zu priorisieren, wissenschaftlich fundiert und ausgewogen sind?, sagt Doronina: ?Die entwickelten Karten und Datenbanken unterstützen die politische Entscheidungsfindung und sind der schnellste Weg, um den grundlegenden Energiebedarf der Bev?lkerung zu decken.?
Zudem wird die Qualit?t der Projektvorbereitung verbessert und das Risiko für Investoren verringert, wenn der Investitionsbedarf gekl?rt ist. ?Diese Studie, die in ihrem Bereich bahnbrechend ist, war eine der ersten, welche die Anforderungen der EU-Richtlinie für erneuerbare Energien III (RED III) berücksichtigt hat, um Gebiete zu identifizieren, in denen erneuerbare Energien schnell gef?rdert werden sollten?, sagt Vasyl Doronin. Die Ergebnisse wurden in der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europ?ischen Kommission in den Niederlanden vorgestellt.
?Wir wollen wieder in der Ukraine leben und hoffen, das Land dank unserer Resultate weiter entwickeln zu k?nnen?, sagt Iryna Doronina. Mit ihrer Forschung will sie die Grundlage für ein Handbuch liefern, das den ukrainischen Gemeinden die Umstellung der Energieversorgung erm?glichen soll. Ihr Ziel ist ein ?Atlas des Potentials zur Transformation des Energiesektors?.
Informationen für die Schweizer Beh?rden
Die Erfahrungen der Ukraine enthalten auch wertvolle Erkenntnisse für den schweizerischen Bev?lkerungsschutz. So lieferte Doronina dem Bundesamt für Bev?lkerungsschutz (BABS) nicht nur detaillierte Informationen zur ukrainischen Energieinfrastruktur und deren Zerst?rung, sondern auch zu den Kriegssch?den für den Agrar- und den Bildungssektor, also für Schulen oder Kinderg?rten. ?Wir zeigten, wie sich der Krieg auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine auswirkte, damit die Schweizer und Schweizerinnen sehen k?nnen, wie es bei uns tats?chlich aussieht und was auch andernorts passieren k?nnte?, sagt Doronina.
Darüber hinaus stellten Doronina und ihre Kolleg:innen ihre Forschung auch auf der Veranstaltung ?Re-Thinking Energy Infrastructure: Empowering Decarbonisation - Moving from Strategy to Implementation? vor, die die ETH Zürich im vergangenen Januar im House of Switzerland am WEF in Davos mitorganisierte.
Literaturhinweis
Doronina, I, Arlt, M-L, Galleguillos Torresa, M, Doronin, V, Grêt-Regamey, A, Schmidt, T, Egli, F. Why renewables should be at the center of rebuilding the Ukrainian electricity system. Joule, 18. September 2024. DOI: externe Seite 10.1016/j.joule.2024.08.014