Der Weg zu Netto-Null ist steinig, aber machbar
Ein nachhaltiger Wandel zu einer klimafreundlichen und artenreichen Schweiz ist nur m?glich, wenn wir Energiewende, Klimaschutz und Biodiversit?t zusammen angehen. Das wird nicht einfach, lohnt sich aber und ist letztlich unabdingbar, meint Reto Knutti.
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Die Schweiz bleibt gefordert: Der Klimawandel macht sich zunehmend bemerkbar, der Zustand der Biodiversit?t ist gelinde gesagt bedenklich – und die Energiewende ger?t gerade wieder ins Stocken.
Die drei Aspekte h?ngen eng zusammen und bergen Zielkonflikte: Der Klimawandel bedroht die Biodiversit?t und damit unsere Lebensgrundlagen. Wir brauchen die Energiewende, um den Klimawandel einzud?mmen und unsere Lebensgrundlagen zu schützen – die erneuerbaren Energien sind der Schlüssel dazu. Doch ihr Ausbau beeintr?chtigt m?glicherweise auch die Biodiversit?t, w?hrend uns eine intakte Biodiversit?t vor dem Klimawandel schützt.
Die zentrale Frage zu Netto-Null lautet daher: K?nnen wir gleichzeitig das Klima schützen, die Biodiversit?t erhalten und die Energieversorgung sichern? Aus meiner Sicht: Ja, das k?nnen wir, auch wenn es nicht ganz einfach ist. Eigentlich müssen wir sogar.
Die Vorgaben sind klar
Mit dem ?bereinkommen von Paris von 2015 ist das Klimaziel gesetzt. Die Schweiz hat mit dem Klimaschutzgesetz (2023) Netto-Null bis 2050 und mit dem Stromgesetz (2024) den Ausbau der einheimischen erneuerbaren Energie klar best?tigt. Auch das Grundprinzip der nachhaltigen Entwicklung und der Schutz der Biodiversit?t sind in Verfassung und Gesetz klar verankert. In einigen Bereichen gibt es tats?chlich auch Fortschritte: Politische Massnahmen wie das Geb?udeprogramm wirken, und W?rmepumpen und batterieelektrische Fahrzeuge werden immer attraktiver. Aber sind wir auf Kurs?
Die Umsetzung stockt
Die kurze Antwort ist nein, wir sind noch nicht auf Kurs. Weder die Welt noch die Schweiz tun genug für den Klimaschutz. Wir sind gleich doppelt ungenügend: Erstens sind die Ziele unzureichend - wir ignorieren beispielsweise den Import-bedingten Konsum - und zweitens werden sie unzureichend umgesetzt. Bei der Biodiversit?t werden die Herausforderungen systematisch kleingeredet, und es scheint, als w?ren wir uns der Tragweite des Problems nicht wirklich bewusst. Bei den Erneuerbaren war der Solarausbau in den letzten Jahren zwar beeindruckend, aber insgesamt verl?uft die Energiewende schleppend. Wer etwas in den Themen daheim ist, der spürt es überall: Der Weg ist steil und steinig.
Die Gründe sind vielf?ltig: Die Umsetzung von Netto-Null erfordert einen langen Atem. Geopolitische Spannungen und Kriege führen dazu, dass nationale, kurzfristige Interessen Priorit?t haben. Für langfristige gemeinsame Ziele bleibt weniger Spielraum, auch Inflation und Spardruck tragen dazu bei. Ausserdem sind Nachhaltigkeit und die Berichterstattung dazu für viele Firmen aufw?ndig.
Mit dem Rechtsrutsch im Schweizer Parlament und der angespannten Lage bei den Bundesfinanzen geht auch politisch fast nichts mehr: Geld für Ladeinfrastruktur von E-Fahrzeugen wurde gestrichen, das Geb?udeprogramm soll gestutzt werden, und das Parlament wollte weder einen Gegenvorschlag zur Biodiversit?tsinitiative noch ein ambitioniertes Inlandziel für die CO2-Reduktionen. Der Solarausbau schw?chelt, unter anderem weil viele Angst vor negativen Strompreisen haben, oder durch die Atomdiskussion verunsichert sind. Schliesslich verdient man Geld im Moment am einfachsten mit ?l und Waffen.
?Wir sind uns weitgehend einig, dass man die Herausforderungen von Energie, Biodiversit?t und Klima l?sen muss, aber zerstritten oder zumindest ratlos darüber, wie.?Reto Knutti
Der Sand im Getriebe f?rbt auch kommunikativ ab. Firmen z?gern oder reden aus Angst vor Kritik nicht mehr über ihre Anstrengungen. Man spricht von Greenhushing.1 Eine fatale Entwicklung, wenn wir die Pioniere kritisieren, weil sie nicht perfekt sind, statt sie zu unterstützen und von ihnen zu lernen.
Viele L?sungen w?ren da
Einige von den obigen Punkten sind ausserhalb unserer Kontrolle, aber die gr?ssten Hürden liegen bei uns selbst. Eine Studie 2 hat vor kurzem m?gliche Barrieren untersucht und kommt zum Schluss, dass die gr?ssten Hürden nicht etwa technologisch oder finanziell bedingt, sondern institutioneller, gesellschaftlicher und politischer Art sind: Wir denken kurzfristig, haben Angst vor Ver?nderung, stehen uns gegenseitig im Weg und schaffen es nicht, einen politischen Rahmen zu gestalten, in dem diese Transformation stattfinden kann. Und dies, obwohl viele Massnahmen sich langfristig lohnen, weil der Nutzen die anf?nglichen Investitionen übersteigt.
Es liegt auch nicht am fehlenden Bewusstsein für die Probleme. Wir sind uns weitgehend einig, dass man die Herausforderungen von Energie, Biodiversit?t und Klima l?sen muss, aber zerstritten oder zumindest ratlos über das ?wie?.
Optimale Wege finden und diskutieren
Als Wissenschaftler:innen k?nnen wir gleich mehrfach zur L?sung beitragen: Erstens, indem wir helfen, Fakten zu prüfen, Varianten zu bewerten und die oft abstrakten ?berlegungen pragmatisch auf lokale Situationen in der Schweiz anzuwenden.
Zweitens, indem wir Denk-Silos überwinden und Ans?tze suchen, die verschiedenen Interessen und Anforderungen genügen. Welche Energieinfrastruktur macht wo Sinn, damit die Biodiversit?t nicht leidet? Wie kombinieren wir Schutz und Nutzung, vor allem im alpinen Raum?
Und drittens, indem wir potenziell konsensf?hige L?sungen nicht nur kommunizieren, sondern ?ffentlich zug?nglich machen, politische Prozesse unterstützen und Raum bieten für Dialog und Diskurs. Kurz: Wir sollten nichts diktieren, aber unsere Vorschl?ge aktiv einbringen.
An genau diesen Fragen und Schnittstellen forschen wir interdisziplin?r in SPEED2ZERO, einer Gemeinsamen Initiative der Institutionen des ETH-Bereichs. Sie hat zum Ziel, aktuelle Herausforderungen in den Bereichen Klima, Biodiversit?t und Energiesicherheit zusammen anzugehen und einen nachhaltigen Wandel hin zu einer klimafreundlichen und artenreichen Schweiz zu erm?glichen.
Es fehlt der Schweiz nicht an Wissen, Technologie oder Geld – wir haben prim?r ein Umsetzungsproblem. Ein breiter Austausch zwischen Gesellschaft, Politik und Wissenschaft kann helfen, solche Blockaden zu l?sen. Dafür setzen wir uns ein.
1 Green Circle: externe Seite Problem Greenhushing: Pioniere feiern hilft
2 Nature Climate Change (2024): externe Seite Feasibility of peak temperature targets in light of institutional constraints