Rutschung von Brienz, Kanton Graubünden

«Wir müssen abschätzen, wie schnell und wie weit die Rutschung kommen kann»

Mitte November 2024 wurde das von einem Bergsturz bedrohte Bündner Dorf Brienz zum zweiten Mal evakuiert. Der Entscheid basiert unter anderem auf Tausenden von Simulationen, die ETH-Professor Jordan Aaron mit einem von ihm entwickelten Computermodell durchgeführt hat. Im Interview mit ETH-News erkl?rt er, warum dieses Modell zum Einsatz kam.

In Kürze

  • Das Bündner Dorf Brienz/Brinzauls wurde Mitte November 2024 zum zweiten Mal evakuiert, weil aus den Kompartimenten oberhalb des Dorfes ein weiteres Sturzereignis droht.
  • Der Ingenieurgeologe Jordan Aaron von der ETH Zürich hat mit einem von ihm entwickelten Modell Tausende von Simulationen durchgeführt, um das Zerst?rungspotenzial eines m?glichen Ereignisses abzusch?tzen.
  • Die Ergebnisse dieser Analyse flossen in die Gefahrenabsch?tzung ein, die die Grundlage für den Evakuierungsentscheid bildete.

ETH-News: Herr Aaron, Sie haben eine Expertengruppe beraten, welche die Gemeinde Albula im Fall der Rutschung Brienz unterstützt. Was war konkret Ihre Aufgabe?
Jordan Aaron: Meine Aufgabe war es, abzusch?tzen, wie weit und wie schnell die Schuttmassen im Fall eines Ereignisses abgleiten k?nnten. Anfang November habe ich mit meinem Computermodell begonnen, das potenzielle Auslaufgebiet eines Ereignisses zu simulieren. Die Ergebnisse der Simulationen und einen Entscheidungsrahmen habe ich dann den Expertinnen und Experten zur Verfügung gestellt, die den verschiedenen Szenarien Wahrscheinlichkeiten zugeordnet haben, um zu kategorisieren, welche wahrscheinlicher und welche weniger wahrscheinlich sind.

Wann wurden Sie zur Beurteilung des Bergsturzes beigezogen?
Seit Herbst 2023 habe ich einen Vertrag mit dem Kanton Graubünden für Forschung und wissenschaftliche Dienstleistungen. Die ersten Gespr?che zu diesem Projekt gab es vor dem Ereignis im Juni 2023. Nach diesem Ereignis wollten die Beh?rden wissen, wie hoch das Restrisiko für das Dorf ist. Meine Forschungsgruppe hat zur Risikoabsch?tzung beigetragen.

Zur Person

Portraet-Foto von Jordan Aaron

Jordan Aaron ist seit 2023 Assistenzprofessor für Ingenieurgeologie an der ETH Zürich. Sein Spezialgebiet ist die Gefahrenanalyse von Felsstürzen und Rutschungen. Er hat das Expertengremium beraten, das den Kanton Graubünden und die Gemeinde Albula im Fall Brienz, aber auch in anderen F?llen unterstützt.

Wie viele Simulationen haben Sie für Brienz mit diesem Modell gerechnet?
Ich habe mehrere tausend Simulationen durchgeführt, um die verschiedenen Szenarien darzustellen. Das liegt daran, dass es wie gesagt sehr unsicher ist, was passieren k?nnte. Die Ergebnisse h?ngen zum Beispiel davon ab, wie das bewegliche Material versagt und wie die klimatischen Bedingungen zu diesem Zeitpunkt sind. All diese Faktoren in unsere Simulationen einzubeziehen, ist eine grosse Herausforderung, und daher sind die Simulationen mit einigen Unsicherheiten behaftet. Wir k?nnen einige dieser Unsicherheiten absch?tzen, indem wir viele m?gliche Szenarien durchspielen, aber alle Ergebnisse müssen zus?tzlich von Experten beurteilt und bewertet werden.

Welches war das ungünstigste Szenario, das sich aus Ihren Simulationen ergab?
Wir haben uns zwei verschiedene Simulationen genauer angesehen, die für das Dorf, die Kantonsstrasse und die Linie der Rh?tischen Bahn schwerwiegende Konsequenzen haben k?nnten. Im ersten Szenario bewegt sich das abstürzende Gesteinsmaterial über einen wasserges?ttigten Untergrund. In diesem Fall w?re der Reibungswiderstand sehr gering. Das Material k?me also mit hoher Geschwindigkeit sehr weit. Das zweite ungünstige Szenario k?nnte eintreten, wenn das bewegte Material selbst mit Wasser ges?ttigt w?re, was das Material stark schw?chen würde. Im schlimmsten Fall k?nnten beide Faktoren - wasserges?ttigter Untergrund und wasserges?ttigtes Material im Abbruchgebiet zusammen auftreten. In diesem Szenario zeigen einige unserer Simulationen, dass das Material bis zum Fluss Albula reicht. Dies k?nnte verheerende Auswirkungen auf die Strasse und die Bahnlinie haben. Dieser Fall ist aber sehr unwahrscheinlich.

Was ist das wahrscheinlichste Szenario?
Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass das Material wie bisher den Hang hinunterkriecht, also mit einer Geschwindigkeit von einigen Dutzend Zentimetern pro Tag. Das ist eine relativ schnelle Rutschung, aber nicht so gef?hrlich für ein Dorf, das einige hundert Meter entfernt liegt.

Aber sie kommt nicht so nahe ans Dorf wie 2023?
Die Rutschung k?nnte ?hnlich weit reichen, aber die Geschwindigkeit w?re viel geringer. Zum Vergleich haben wir uns eine andere Rutschung an diesem Berg angesehen, den Igl Rutsch. Damals kam das Material ziemlich nahe bis zum Dorf herunter. Aber von dem Moment an, als es sich zu bewegen begann, bis es zum Stillstand kam, vergingen drei Jahre. Es war eine Rutschung in Zeitlupe mit einer ?hnlichen Geschwindigkeit wie das Material, das sich jetzt bewegt. Auch das ist eine M?glichkeit, die wir in Betracht ziehen müssen. Ebenso wahrscheinlich ist ein Ereignis, bei dem sich das Material innerhalb von Minuten l?st und schnell den Hang hinunterrutscht, ?hnlich wie beim Abbruch im Jahr 2023. In meiner Simulation n?hert sich das Material dem Dorf, verfehlt es aber.

Trotzdem würden Sie die Entscheidung, das Dorf zu evakuieren, die zum Teil auf Ihren Simulationen beruht, nicht in Frage stellen.
Nein. Ich bin ein wissenschaftlicher Berater. Die Entscheidung treffen Politiker und Entscheidungstr?ger. Aber wenn eines der beiden schlimmsten Szenarien eintr?te, dann haben die Simulationen gezeigt, dass die Folgen für das Dorf verheerend w?ren. Und weil die Wahrscheinlichkeit hoch genug ist, dass diese kritischen Szenarien eintreten, bedeutet das ein hohes Risiko für die Dorfbev?lkerung.

Was ist das Besondere an Ihrem Modell?
Das Modell profitiert von Fortschritten in der Rechenleistung. Moderne Grafikkarten, so genannte GPUs, sind relativ preiswert, aber wenn ein Programm auf eine bestimmte Art und Weise geschrieben ist, k?nnen sie diese Beschleunigung liefern. Das ist es, was KI-Algorithmen tun, und das ist es, was mein Modell tut. Deshalb ist es über 200 Mal schneller als vergleichbare Modelle.

Wie lange braucht ein normaler Desktop-Computer, um eine Simulation mit Ihrem Modell zu berechnen?
Zwischen drei und zehn Sekunden. Die Vorg?ngerversion ben?tigte für eine solche Berechnung rund 40 Minuten, also wesentlich l?nger. Diese kurze Rechenzeit erm?glicht es uns, so viele Simulationen durchzuführen und alle Unsicherheiten einzubeziehen, ohne dafür Monate zu brauchen.

Aber wie findet man unter Tausenden von Simulationen diejenigen, die realistisch sind?
Das ist tats?chlich eine grosse Herausforderung. Ich habe meine Doktorarbeit genau auf diesem Gebiet gemacht: Vorherzusagen, wie weit und wie schnell sich Rutschungen ausbreiten. Dazu habe ich in einer Datenbank Vergleichsf?lle aus der ganzen Welt gesammelt. Im Fall von Brienz kann ich nun auf diese Datenbank zurückgreifen und sie mit ?hnlichen F?llen an anderen Orten der Welt vergleichen. So k?nnen wir die Simulationen mit realen ?hnlichen F?llen vergleichen und absch?tzen, welches Szenario eintreten k?nnte. Es sind keine perfekten ?bereinstimmungen, aber ziemlich gute Analogien zu dem, was passieren k?nnte.

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Beispiel einer Simulation des Rutsches von Brienz, Graubünden. (Video: Jordan Aaron / ETH Zürich)

Wenden Sie Ihr Modell auch in anderen F?llen in der Schweiz an?
Ja, ich habe es schon auf andere F?lle in der Schweiz angewendet, auch im Kanton Graubünden.

Was heisst das für Ihre Forschung? Haben Sie neben diesen Gef?hrdungsabsch?tzungen noch Zeit dafür?
Brienz ist ein Beispiel dafür, wie die Forschung meiner Gruppe der Gesellschaft nützt. Unsere Erkenntnisse und Werkzeuge helfen den Beh?rden, wissenschaftlich fundierte Entscheidungen zu treffen, die die Bev?lkerung schützen. Meine Vision als Kopf der Professur für Ingenieurgeologie an der ETH Zürich ist es, innovative Forschung zu betreiben, die unser Wissen über geologische Prozesse wie Hangrutschungen erweitert. Diese neuen Erkenntnisse wollen wir dann in praxistaugliche Werkzeuge und Beratungen umsetzen, die Praktiker:innen und Entscheidungstr?ger:innen nutzen k?nnen. Unser Ziel ist, dass die Gesellschaft damit fundierte Entscheidungen zum Schutz von Mensch und Infrastruktur treffen kann. Das ist der allgemeine Kontext, in dem wir in meiner Gruppe Grundlagenforschung betreiben.

K?nnen Sie das Modell noch verbessern?
Ja, natürlich, und wir werden es weiter verbessern, aber dazu müssen wir die Mechanismen, die solchen Naturkatastrophen zugrunde liegen, besser verstehen. In meiner Gruppe gibt es eine Reihe von Forschungsprojekten, die in diese Richtung gehen, und wir haben hervorragende Mitarbeiter, die daran arbeiten. Ich bin optimistisch, dass wir in der Lage sein werden, die neuen Werkzeuge zu entwickeln, die dringend ben?tigt werden, um die zukünftigen Herausforderungen der Gesellschaft zu bew?ltigen, zumindest was die Ingenieurgeologie betrifft.

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