Durchbruch beim Acrylglas-Recycling
Polymerchemiker:innen der ETH Zürich haben einen überraschenden Weg gefunden, über den sich der als Plexiglas bekannte Kunststoff PMMA fast vollst?ndig in seine Monomerbausteine zerlegen l?sst. Selbst Zusatzstoffe st?ren den Prozess nicht.
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In Kürze
- ETH-Materialforschende haben eine neue Methode entwickelt, mit der Acrylglas erstmals fast vollst?ndig rezykliert werden kann.
- Die Polymerketten werden in ihre Monomerbausteine zerlegt, die dann mit einfachen Destillationsverfahren gereinigt werden k?nnen.
- Der Mechanismus beruht auf einem chlorierten L?sungsmittel. Unter dem Einfluss von UV-Licht spaltet sich ein Chlorradikal aus dem L?sungsmittel ab und l?st den Abbau der Polymerkette aus.
Heutiges Kunststoffrecycling beschr?nkt sich weitgehend auf die Sammlung sortenreiner Getr?nkeflaschen aus PET oder Polyethylen. Der gesammelte Kunststoff hat eine identische chemische Zusammensetzung und ?hnlich lange Polymermoleküle. Auch Zusatzstoffe, mit denen beispielsweise Farbe, Weichheit oder Lichtbest?ndigkeit optimiert werden, sind ?hnlich. Der Kunststoff kann daher direkt eingeschmolzen und zu neuen Flaschen gegossen werden.
So genannte Mischkunststoffe aus verschiedenen Kunststoffsorten und -qualit?ten werden dagegen meist nur zur W?rmegewinnung verbrannt, zum Beispiel in Zementwerken. Dadurch gehen wertvolle Rohstoffe verloren.
Wissenschaftler:innen um Athina Anastasaki vom Labor für Polymermaterialien der ETH Zürich haben jetzt einen Weg gefunden, Kunstoffe, in dem Fall Acrylglas (bekannt unter dem Markennamen Plexiglas), fast vollst?ndig in seine Monomerbausteine zu zerlegen. Diese lassen sich dann aus dem Gemisch mit Additiven durch Destillation leicht zu hochwertigen Ausgangsprodukten für die Synthese neuer Acrylglas-Polymere aufreinigen.
Und das Potenzial ist gross: Mit einer weltweiten Jahresproduktion von rund 3,9 Millionen Tonnen wird Acrylglas (chemisch: PMMA, Polymethylmethacrylat) als widerstandsf?higes und leichtes Kunststoffglas in der Luft- und Raumfahrt, im Automobilbau, für Bildschirme und in der Bauindustrie immer h?ufiger verwendet.
Das in der Fachzeitschrift externe Seite Science vorgestellte Verfahren der ETH-Forscher:innen ist ausgesprochen robust. Es funktioniert auch mit sehr langen Polymerketten, die aus 10’000 Bausteinen bestehen. Auch Zusatzstoffe wie Copolymere, Weichmacher oder Farbstoffe und die meisten anderen Kunststoffe st?ren die Kettenspaltung kaum. Selbst bei verschiedenfarbigem Acrylglas aus dem Baumarkt liegt die Ausbeute zwischen 94 und 98 Prozent.
Erstaunlich einfaches Verfahren
?Unser Verfahren ist denkbar einfach?, betont Anastasaki: ?Wir brauchen nur ein chlorhaltiges L?sungsmittel, müssen das gel?ste Recyclinggemisch m??ig auf 90 bis 150 Grad Celsius erw?rmen und k?nnen dann mit Hilfe von sichtbarem oder UV-Licht die Abbaureaktion gezielt starten.?
Dass das so einfach funktioniert, hat die ETH-Professorin verblüfft. Wie viele andere wichtige Kunststoffe wie Polyethylen oder Polypropylen bestehen auch Acrylglas-Polymere aus einer Polymerkette, die ausschliesslich aus Kohlenstoffatomen aufgebaut ist und von der je nach Kunststofftyp verschiedene Seitengruppen abzweigen. Solche einheitlichen Kohlenstoffketten stellten bisher eine unüberwindbare chemische Hürde für die gezielte Aufspaltung in Monomere dar, da sie keine definierten Angriffspunkte für Spaltungsreaktionen bieten.
Die einzige Methode, mit der die homogenen Kohlenstoffketten in der industriellen Praxis vollst?ndig gespalten werden k?nnen, ist die so genannte Pyrolyse. Dabei werden die Kohlenstoffketten bei etwa 400 Grad Celsius thermisch gespalten. Diese Reaktionen sind jedoch unspezifisch und es entsteht ein Gemisch aus vielen verschiedenen Spaltprodukten. Der hohe Energieaufwand und die aufwendige Separierung des Gemisches schr?nken die Wirtschaftlichkeit der Pyrolyse stark ein.
Seit einigen Jahren experimentieren verschiedene Forschungsgruppen mit modifizierten Polymeren. Dabei werden an den Enden der Polymerketten leicht abspaltbare Molekülgruppen eingeführt, die dann einen Abbau der Kette vom Ende her ausl?sen. Auf diese Weise erreichen die Forschenden zwar Ausbeuten von bis zu über 90 Prozent.
Allerdings haben diese Designerpolymere mehrere entscheidende Nachteile: Sie müssen erst in die etablierte Kunststoffproduktion integriert werden. Zudem schr?nken ihre reaktiven Endgruppen die thermische Stabilit?t der Polymere und damit ihre Einsatzm?glichkeiten deutlich ein. Hinzu kommt, dass viele der üblichen Kunststoffadditive die Ausbeute der Reaktionen verringern und selbst bei l?ngeren Polymerketten, wie sie in kommerziellen Kunststoffen h?ufig vorkommen, der Abbau nur zu einem geringen Teil funktioniert.
Das L?sungsmittel bestimmt die Reaktion
Bei der Entdeckung der neuen Methode half, wie so oft in der Chemie, der Zufall, wie Anastasaki erkl?rt: ?Wir waren eigentlich auf der Suche nach spezifischen Katalysatoren, die die Aufspaltung in die Monomere gezielt f?rdern. Doch in einem Kontrollexperiment stellten wir zu unserer ?berraschung fest, dass der Katalysator gar nicht n?tig war.? Das chlorierte L?sungsmittel, in dem die zerkleinerte Acrylglasprobe gel?st war, reichte aus, um das Polymer mit Hilfe von UV-Licht fast vollst?ndig zu spalten.
Als die Forschenden die Spaltungsreaktion genauer untersuchten, stiessen sie auf einen überraschenden Mechanismus. Das chemisch aktive Teilchen der Reaktion ist ein Chlorradikal. Es wird aus dem chlorierten L?sungsmittel abgespalten, wenn es durch UV-Licht angeregt wird. Unerwartet war, dass das langwelliges Licht die Bindung des Chlors an das L?sungsmittelmolekül aufbrechen kann. Dies geschieht durch ein beinahe esoterisch anmutendes photochemisches Ph?nomen, bei dem ein sehr geringer Anteil der L?sungsmittelmoleküle UV-Licht mit hoher Wellenl?nge absorbiert.
Um den Mechanismus der Spaltung aufzukl?ren, konnte Anastasaki auf die Hilfe von Spezialisten aus anderen ETH-Forschungsgruppen z?hlen. Tae-Lim Choi vom Laboratorium für Polymerchemie berechnete die theoretischen Elektronenzust?nde der beteiligten Moleküle, und Gunnar Jeschke vom Institut für Molekulare Physik führte Elektronenspinresonanz-Messungen durch, mit denen die theoretischen Vorhersagen experimentell überprüft wurden.
Das Chlor muss weg
In Zukunft will die ETH-Forscherin bei ihrem Recyclingverfahren allerdings auf das chlorierte L?sungsmittel verzichten: ?Chlorierte chemische Verbindungen schaden der Umwelt. Unser n?chstes Ziel ist es deshalb, die Reaktionen so zu modifizieren, dass sie auch ohne das chlorierte L?sungsmittel funktionieren.
In welcher Form und in welchem Zeitrahmen die ETH-Methode in die Praxis umgesetzt wird, ist noch offen. Auf jeden Fall haben die Forschenden um Anastasaki die Tür zu neuartigen Recyclingmethoden aufgestossen, mit denen sich auch die bisher chemisch unzug?nglichen Kohlenstoffketten von Kunststoffen gezielt aufspalten lassen.
Literaturhinweis
Wang HS, Agrachev M, Kim H, Truong NP, Choi T-L, Jeschke G, Anastasaki A: Visible light–triggered depolymerization of commercial polymethacrylates. Science 387,874-880 (2025). DOI: externe Seite 10.1126/science.adr1637