Wie viel wiegt das Leben?

ETH-Forscher haben eine Zell-Waage entwickelt, mit der sich erstmals sowohl das Gewicht einzelner lebender Zellen schnell und pr?zise bestimmen l?sst, als auch dessen Ver?nderung über die Zeit. Die Erfindung st?sst auch ausserhalb der Biologie auf grosses Interesse.

Vergr?sserte Ansicht: Zellwaage (Copyright: Micronaut.ch / ETH Zürich / Uni Basel)
ETH-Forschende entwickelten eine hochsensible Waage, welche das Gewicht einer einzelnen Zelle misst. (Bild: Martin Oeggerli, micronaut.ch / ETH Zürich / Uni Basel)

Ob Regenwurm, Sonnenblume oder Mensch – wir alle bestehen aus Zellen. Kein Wunder also, dass Forschende sich intensiv mit diesen Grundbausteinen des Lebens besch?ftigen. Viele ihrer Geheimnisse haben sie ihnen bereits entlockt. Doch das Gewicht lebender Zellen und dessen Ver?nderung in Echtzeit genau zu messen, war bisher nicht m?glich. Es gab schlicht keine geeignete Messmethode.

Neuartige Zellwaage mit hoher Aufl?sung

Das ist nun anders: Wissenschaftler der Forschungsgruppe Biophysik unter der Leitung von ETH-Professor Daniel J. Müller haben in Zusammenarbeit mit Christoph Gerber von der Universit?t Basel und Jason Mercer vom University College London eine neuartige Zellwaage entwickelt. Mit dieser ist es nicht nur m?glich, die Masse lebender Zellen innert kürzester Zeit zu bestimmen, sondern auch zu verfolgen, wie sich deren Gewicht über die Zeit ver?ndert. Und das mit einer Aufl?sung von Millisekunden und Billionstel Gramm.

Gewogen werden die Zellen, die normalerweise rund zwei bis drei Nanogramm wiegen, unter kontrollierten Bedingungen in einer Zellkulturkammer. Der W?gearm, ein winziges, hauchdünnes, transparentes und mit Collagen oder Fibronektin beschichtetes Siliziumpl?ttchen, wird zum Boden der Kammer heruntergefahren, stupst dort eine Zelle an und nimmt sie auf. ?Für die Messungen h?ngt die Zelle quasi kopfunter an der Unterseite eines winzigen Federbalkens?, sagt Gotthold Fl?schner, einer der Hauptbeteiligten an der Entwicklung der neuen Waage.

Gewicht und Zellaktivit?t gleichzeitig beobachten

Auf der Seite, an welcher der mikroskopische Federbalken befestigt ist, wird dieser mithilfe eines blauen, pulsierenden Lasers minim zum Schwingen angeregt. Ein zweiter, sehr schwacher infraroter Laser misst vorne, wo die Zelle h?ngt, die Schwingungen, zuerst ohne und dann mit Zelle. ?Aus der Differenz der beiden Schwingungen l?sst sich die Masse der Zellen errechnen?, erkl?rt David Martínez-Martín, der die Zellwaage entwickelt und gebaut hat.

Auf dem Computerbildschirm wird das Gewicht und dessen Ver?nderung als Kurve dargestellt und kann über den gesamten Zeitraum der Messung – seien das nun Millisekunden oder Tage – abgelesen werden. Da die Messapparatur samt Zellkultur direkt auf dem Objekttisch eines leistungsstarken Fluoreszenzmikroskops montiert ist, kann zus?tzlich zur Gewichts-Messung alles, was gleichzeitig im Innern der gewogenen Zellen vorgeht, gefilmt und beobachtet werden.

Gewicht von lebenden Zellen schwankt

So l?sst sich beispielsweise verfolgen, wie sich das Gewicht w?hrend Zellzyklus und Zellteilung ver?ndert, welchen Einfluss verschiedene Substanzen auf die Masse der Zellen haben oder was passiert, wenn ein Virus sie bef?llt. Martínez-Martín und Fl?schner haben diverse solche Experimente durchgeführt.

Eine besonders bemerkenswerte Beobachtung: ?Wir haben festgestellt, dass das Gewicht lebender Zellen kontinuierlich um ein bis vier Prozent schwankt, w?hrend sie ihr Gesamtgewicht regulieren?, sagt Martínez-Martín. Tote Zellen zeigen diese Schwankungen im Sekundenbereich nicht, wie die Biophysiker nachweisen konnten. Die Forscher sind begeistert. Fl?schner: ?Wir sehen hier Dinge, die noch niemand vor uns beobachtet hat.?

Grosses Interesse an Zellwaage

Wo immer die ETH-Wissenschaftler von ihrer Neuentwicklung berichten, stossen sie auf grosses Interesse. ?Die Masse der Zelle ist ein sehr guter Indikator für ihre Physiologie?, erkl?rt Martínez-Martín die Begeisterung. Logisch also, dass sich Biologen aller Richtungen für die neue Messmethode interessieren. Auch für Medizin und Pharmaindustrie k?nnte sie interessant sein. Man k?nnte damit das krankhafte Wachstum von Zellen untersuchen und den Einfluss von Medikamenten darauf testen.

?berraschender ist, dass sich auch Materialwissenschaftler für das Ger?t interessieren. ?Dort geht es vor allem um die sogenannte Funktionalisierung von Nanopartikeln, also darum, die Oberfl?chen von sehr kleinen Partikeln zu ver?ndern?, erkl?rt Martínez-Martín.

Dieser Tage stellen die beteiligten Wissenschaftler ihre Erfindung in der Fachzeitschrift ?externe Seite Nature? erstmals einem breiten wissenschaftlichen Publikum vor. Die neue W?ge-Methode ist unterdessen patentrechtlich geschützt. Die Chancen, dass Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen die vielversprechende neue Zell-Waage bald selbst nutzen k?nnen, stehen jedoch gut: Die Schweizer Firma externe Seite Nanosurf AG arbeitet als Lizenznehmerin bereits an einem serienreifen Ger?t.

Literaturhinweis

Martínez-Martín D, Fl?schner G, Gaub B, Martin D, Newton R, Beerli C, Mercer J, Gerber C, Müller DJ. Inertial picobalance reveals fast mass fluctuations of mammalian cells. Nature, published online 25th Oct 2017, DOI: externe Seite 10.1038/nature24288

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