Datenbasiertes Krafttraining gegen Muskelschwund
Forschende der ETH Zürich und der ZHAW erarbeiten eine einfache Methode, um das Krafttraining an Ger?ten exakt zu beschreiben und fehlende Vergleichsgr?ssen zu erfassen. Das k?nnte künftig helfen, optimierte Trainingsstrategien auch gegen altersbedingten Muskelschwund zu entwickeln.
Muskeln sind fürs Leben unabdingbar. Allein die Skelettmuskulatur macht bis zu vierzig Prozent unseres K?rpergewichts aus. Sie wandelt chemische in mechanische Energie um und erzeugt die Kraft, mit der wir atmen und uns bewegen. Muskeln dienen zudem als Reservoir für Kohlenhydrate, Proteine und Fetts?uren und tragen wesentlich zum Stoffwechsel und Energiehaushalt bei.
Die Muskelmasse nimmt allerdings etwa ab dem vierzigsten Lebensjahr kontinuierlich ab. Dieser altersassoziierte Muskelschwund, in der Fachsprache Sarkopenie genannt, betr?gt ungef?hr sechs Prozent in zehn Jahren. Bis Achtzig verliert eine Person dadurch rund ein Drittel ihrer maximalen Muskelmasse. Die Leistungsf?higkeit nimmt deutlich ab, die Lebensqualit?t sinkt.
Muskeltraining als Medizin
Es ist gemeinhin bekannt, dass k?rperliche Aktivit?t das Muskelwachstum stimulieren kann. Krafttraining gilt denn auch als die wichtigste Massnahme, um den negativen Folgen der Sarkopenie entgegenzuwirken. Weitgehend unbekannt ist jedoch, wie ein zielgerichtetes Muskeltraining genau aussehen muss, damit es seinen Zweck optimal erfüllt.
?Das liegt daran, dass man das Krafttraining in der Praxis zu wenig genau beschreibt. Rückschlüsse auf die Muskelbildung sind damit kaum m?glich?, sagt Claudio Viecelli, Doktorand am Institut für Molekulare Systembiologie bei ETH-Professor Ernst Hafen.
Diese Lücke will Viecelli schliessen. Im Rahmen seiner Dissertation hat der Molekular- und Muskelbiologe zusammen mit Kollegen der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) sowie von der Kieser Training AG eine bestechend einfache Methode entwickelt: Sie nutzt die Beschleunigungssensoren in g?ngigen Smartphones, um den Verlauf von Kraftübungen an Ger?ten zeitlich hochaufgel?st zu erfassen. ?ber ihre Methode berichten die Forscher aktuell im Fachmagazin externe Seite PLOS ONE.
Gesucht: Zeit unter Spannung
Bis anhin werden beim Krafttraining nur die mit einem Gewicht geleistete Arbeit anhand der Anzahl S?tze und Wiederholungen protokolliert. Solche Trainingsdaten sind jedoch unzureichend vergleichbar und damit suboptimal, um m?gliche Effekte des Trainings auf die Muskelbildung zu untersuchen. Für die Muskelphysiologie ist das zeitliche Muster der Kraftübung relevant.
Die dazu notwendigen Beschreibungsgr?ssen sind in der Theorie seit l?ngerem bekannt: Es sind dies unter anderem die ?einzelne Wiederholung?, welche aus dem Anheben und Absenken der Last besteht; dann die ?spezifischen Kontraktionszeiten?, welche die jeweilige Spannungsdauer der Muskeln für das Anheben und Absenken angeben; und schliesslich die ?totale Spannungsdauer? – sie beziffert, wie lange die Muskulatur w?hrend einer ?bung insgesamt angespannt ist.
Von der Beschleunigung zur Kontraktion
Bislang gibt es jedoch keinen geeigneten Ansatz, um diese Gr?ssen im Kraftraum zuverl?ssig zu erfassen. ?Dazu w?ren mehrere Stoppuhren oder sogar mehrere Helfer n?tig – doch das ist kaum praktikabel. Deshalb fehlen diese Angaben meistens in Trainingsprotokollen wie auch in wissenschaftlichen Publikationen?, erkl?rt Viecelli, der selber begeistert Krafttraining macht. Auf der Suche nach einer L?sung kam er auf die Idee, das Smartphone als digitales Analysewerkzeug zu benutzen.
Um die Idee zu prüfen, untersuchte Viecelli Trainingsübungen von 22 Probanden auf neun Kraftger?ten im ASVZ Irchel. Das Smartphone befestigte er jeweils am Gewichtsblock, damit es die Beschleunigungen w?hrend den ?bungen registriert. Eine eigens programmierte App zeichnete die Daten der Sensoren auf. Aus den Beschleunigungsprofilen konnte Viecelli tats?chlich die fraglichen Kontraktionszeiten bestimmen. Durch den Vergleich mit Videoaufnahmen zeigte er zudem, dass die Methode hinreichend exakt ist und zuverl?ssig funktioniert.
Fernziel: digitalisierter Kraftraum
Die neue Analysemethode erlaubt es, Muskelübungen wesentlich genauer als bisher zu beschreiben und die relevanten Vergleichsgr?ssen standardisiert zu erfassen. Erst damit wird es m?glich, das Krafttraining als Stimulus für die Muskelbildung zu quantifizieren und anhand von Vergleichsstudien trainingsinduzierte Ver?nderungen in der Muskelphysiologie zu identifizieren. Das k?nnte nicht zuletzt helfen, die altersassoziierte Sarkopenie und deren Folgeerscheinungen zu bek?mpfen.
In erster Linie ist die Methode denn auch für die Forschung gedacht. In Zukunft ist es laut Viecelli aber denkbar, dass auch Trainierende das Werkzeug nutzen, um selbst?ndig Daten mit ihrem Smartphone zu erfassen. Damit k?nnten sie beispielsweise Trainingspl?ne besser an ihre Bedürfnisse anpassen.
Solche Anwenderdaten sind wiederum für die Wissenschaft interessant. Viecellis Vision ist ein digitalisierter Kraftraum mit einer Fülle an Trainingsdaten, die man mit dem K?rper korrelieren kann. ?Unser Ziel ist, personalisierte Trainingsstrategien zu entwickeln, um die Muskelmasse, die Kraft oder beides zusammen effizient und effektiv zu erh?hen?, so der Molekular- und Muskelbiologe.
Literaturhinweis
Viecelli C, Graf D, Aguayo D, Hafen E, Füchslin R. Using smartphone accelerometer data to obtain scientific mechanical-biological descriptors of resistance exercise training. PLOS ONE (2020), published online 15th July, doi: externe Seite 10.1371/journal.pone.0235156