Exponentielles Wachstum begreifen
Die meisten Menschen untersch?tzen exponentielle Entwicklungen – auch bei Corona. Je nachdem, wie sie dargestellt werden, kann man sich rasante Entwicklungen mehr oder weniger gut vorstellen. Die richtige Kommunikation hilft in einer Pandemie, die Akzeptanz der Massnahmen zu erh?hen.
Der Ausbruch der Corona-Pandemie war für viele auch ein Crash-Kurs in Statistik. Begriffe wie Verdoppelungszeit, logarithmische Achsen, R-Faktor, rollende Durchschnitte und ?bersterblichkeit sind inzwischen in aller Munde. Doch mathematische Funktionen zu kennen, bedeutet noch lange nicht, dass man sich die damit beschriebenen Vorg?nge in der Realit?t und in ihrem vollen Ausmass vorstellen kann.
Viel Mühe bekunden die Menschen mit dem exponentiellen Wachstum. Im alten Indien erz?hlte man sich dazu die Geschichte vom Kaiser, der von einem H?fling genarrt wurde. Dieser sprach zu ihm: ?Nichts weiter will ich, edler Gebieter, als dass Ihr das Schachbrett mit Reis auffüllen m?get. Legt ein Reiskorn auf das erste Feld, und dann auf jedes weitere Feld stets die doppelte Anzahl an K?rnern.?
Mit wie viel Reis der Kaiser rechnete, als er sich auf den Handel einliess, ist nicht bekannt. Er hat aber mit grosser Wahrscheinlichkeit die exponentielle Zunahme auf den 64 Feldern des Schachbretts untersch?tzt. Denn am Ende schuldete er dem H?fling nicht weniger als 18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 73 Milliarden, 709 Millionen, 551 Tausend und 615 Reisk?rner, was ungef?hr 11 Milliarden Eisenbahnwagen voll Reis entspricht.
Das systematische Untersch?tzen des exponentiellen Wachstums kann in einer Pandemie verheerende Auswirkungen haben. Denn wenn die Menschen das Tempo einer Ausbreitung verkennen, nehmen sie eind?mmende Massnahmen wie Masken-Tragen, Abstandsregeln oder die Schliessung von Lokalen als übertrieben wahr und beachten sie weniger.
Hier setzt eine Forschungsarbeit an, die am Center for Law and Economics der ETH Zürich und an der Hochschule Luzern (HSLU) erstellt und im Wissenschaftsjournal ?Plos One? ver?ffentlicht worden ist. Martin Schonger, Dozent und Studiengangleiter an der HSLU sowie Research Fellow an der ETH, und Daniela Sele, Doktorandin an der ETH, wollten wissen, ob die Art und Weise, wie die exponentielle Ausbreitung eines Virus dargestellt wird, die systematische Untersch?tzung beeinflusst.
Aus anderen Experimenten wussten sie bereits, dass Menschen exponentielles Wachstum selbst dann untersch?tzen, wenn ihnen bekannt ist, dass Menschen ebendieses Problem haben. Es bringt daher wenig, Menschen über ihren ?exponential growth bias? aufzukl?ren, wie die Wissenschaft heute das Schachbrett-Problem des indischen Kaisers nennt. Die Informierten liegen mit ihren Sch?tzungen ebenso daneben wie die anderen.
Zeit leichter zu verstehen als Wachstumsrate
In einem Experiment mit über 400 Teilnehmenden arbeitete das Forscherteam immer mit dem gleichen Szenario: Ein Land verzeichnet aktuell 1000 Covid-Infektionen. Die Fallzahl w?chst t?glich um 26 Prozent. So steigt die Zahl der Infektionen innerhalb von 30 Tagen exponentiell auf 1 Million. Allerdings besteht die M?glichkeit, die Wachstumsrate von 26 Prozent durch eind?mmende Massnahmen auf 9 Prozent zu senken.
Diesen Sachverhalt haben die Forschenden aus verschiedenen Perspektiven (?Frames?) abgefragt: Wie viele Infektionen k?nnen durch die Massnahmen vermieden werden? Wie viel Zeit k?nnte man durch die Massnahmen gewinnen, bis die Marke von 1 Million F?lle erreicht ist? Wie viele Infektionen werden es nach 30 Tagen sein, wenn sie sich nicht alle drei Tage, sondern nur noch alle 8 Tage verdoppeln? Letzteres entspricht übrigens einer Senkung der Wachstumsrate von 26 auf 9 Prozent, was wohl die wenigsten intuitiv erkennen.
?Wir waren überrascht über die Deutlichkeit und die Konsistenz der Resultate unseres Experiments?, sagen die beiden Forschenden. Ihre erste Erkenntnis: Wachstumsraten sind wenig geeignet, um eine solche pandemische Entwicklung zu kommunizieren. ?ber 90 Prozent der Teilnehmenden lagen viel zu tief, wenn sie eine exponentielle Entwicklung der Ansteckungen auf 30 Tage hinaus sch?tzen mussten. Deutlich zutreffender konnten sie die Fallzahlen sch?tzen, wenn sie von der Verdoppelungszeit ausgehen konnten.
Vorstellen, wie Massnahmen wirken
Eine zweite Erkenntnis: Die Menschen k?nnen sich schlecht vorstellen, wie viele Infektionen mit eind?mmenden Massnahmen verhindert werden k?nnen. Im obigen Beispiel (1000 F?lle, Wachstumsrate von 9 statt 26 Prozent w?hrend 30 Tagen) lagen die Teilnehmenden weit daneben: Der typische Teilnehmer oder die Teilnehmende (Median) glaubte, dass 8600 F?lle vermieden werden k?nnen. Tats?chlich sind es fast 1 Million.
Wird hingegen nach der Anzahl Tage gefragt, die durch diese Massnahmen gewonnen werden k?nnen (etwa bis zur ?berlastung der Spit?ler oder bis zum Bereitstehen einer Impfung), sind die Sch?tzungen deutlich besser.
Die besten Resultate lieferte im Experiment schliesslich ein ?Frame?, in dem einerseits nach der gewonnenen Zeit gefragt wurde und anderseits nach den Auswirkungen, wenn die Zeitspanne l?nger wird, in der sich die Zahl der Infektionen verdoppelt. Ein Beispiel dafür ist die Aussage: ?Dank den heute ergriffenen Pr?ventionsmassnahmen k?nnen wir davon ausgehen, dass sich die Fallzahlen nicht mehr alle 3 Tage verdoppeln, sondern nur noch alle acht Tage. Dadurch gewinnen wir 50 Tage Zeit, bis die Marke von 1 Million Infektionen erreicht würde, und k?nnen weitere Massnahmen zur Bek?mpfung der Pandemie einleiten.?
Der Einfluss der Kommunikation
Die Beh?rdenkommunikation und die Medienberichterstattung waren zwar nicht Gegenstand der Untersuchung, die w?hrend des Lockdowns im Frühjahr 2020 erstellt worden ist. Daniela Sele und Martin Schonger verfolgten aber aufmerksam, wie die einschneidenden Massnahmen damals kommuniziert wurden und verglichen die Beobachtungen mit ihren Forschungsergebnissen.
In der Wahrnehmung der Autoren geben das Bundesamt für Gesundheit und die wissenschaftliche Taskforce oft Verdoppelungszeiten an und verzichten auf die Erw?hnung von Wachstumsraten, was das Verst?ndnis im Experiment erleichterte. Von gewonnener Zeit werde jedoch kaum gesprochen, obschon die Botschaften damit besser ankommen.
Die Forschenden vermuten aber, dass der direkte Einfluss der Beh?rdenkommunikation begrenzt ist. Den Medien komme eine gr?ssere Bedeutung zu, aber diese berichteten fast immer über F?lle und kaum je über gewonnene Zeit.
Für Martin Schonger und Daniela Sele sind die Covid-??Massnahmen nur ein Anwendungsfall der ?Framing?-?Theorie zur Wahrnehmung exponentiellen Wachstums. Sie k?nnen sich ?hnliche Ph?nomene auch in der Finanzbranche, bei rechtlichen oder bei Umweltentscheidungen vorstellen.
Literaturhinweis
Schonger M, Sele, D: How to better communicate the exponential growth of infectious diseases. Plos One, 2020, 15 (12): doi: externe Seite https://doi.org/10.1371/journal.pone.0242839