Das Imperium schlägt zurück
In den letzten Jahren haben nationalistische Politiker Territorien beansprucht, die den Glanz eines alten Imperiums wiederherstellen sollen. Lars-Erik Cederman geht deshalb davon aus, dass rückw?rtsgewandter Nationalismus die geopolitische Stabilit?t bedroht.
Der Imperialismus gilt als ein l?ngst überholtes Prinzip. Dennoch scheinen populistische Nationalisten in den letzten Jahren eine starke Sehnsucht nach der imperialen Vergangenheit ihrer Staaten zu haben. Der russische Pr?sident Wladimir Putin betrachtet den Zusammenbruch der Sowjetunion als eine der gr?ssten Katastrophen des 20. Jahrhunderts und hat mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 begonnen, verlorenes Territorium zurückzufordern. In ?hnlicher Weise h?ngt der türkische Pr?sident Recep Tayyip Erdogan einer gr?sseren, imperialen osmanischen Vergangenheit nach und zeigt Interesse an Expansion, die Nordzypern und syrische Grenzregionen einschliesst. Als Ausdruck einer tiefen Identit?tskrise nach dem Verlust des britischen Empires k?nnte der Brexit-Prozess letztlich den Konflikt in Nordirland neu entfachen und das Vereinigte K?nigreich auseinanderbrechen lassen.
Das Empire ist tot – es lebe das Empire
Das formale Empire mag tot sein, aber bei gekr?nkten Nationalisten, die ihr Land ?wieder grossmachen? wollen, sind die Versuchungen des Revisionismus erheblich. Wie Putins Landnahme auf der Krim anschaulich zeigte, sind friedliche Grenzver?nderung als unbedingte Norm nicht mehr selbstverst?ndlich. Führende Staaten nehmen wenig Rücksicht auf das V?lkerrecht, wie die Anerkennung der von Israel besetzten Gebiete durch die Trump-Administration zeigt. Trumps Wahlniederlage hat der liberalen Weltordnung zwar eine Atempause verschafft. Ich zweifle aber nicht daran, dass diese durch die Trump-Administration stark geschw?cht wurde.
Die erw?hnten Spannungen sind zu einem grossen Teil das Ergebnis von ethnischem Nationalismus, einer Ideologie, die besagt, dass politische Grenzen mit ethno-nationalen Grenzen übereinstimmen müssen. Nationalistische Spannungen entstehen h?ufig in F?llen, in denen mehrere ethnische Nationen denselben Staat bewohnen oder in denen Mitglieder derselben Nation durch die derzeitigen Grenzen getrennt bleiben.
?Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die liberalen Demokratien wieder an Schwung gewinnen.?Lars-Erik Cederman
Die Sehnsucht nach einem ?Goldenen Zeitalter?
Zusammen mit meinem Team zeige ich in einer aktuellen Analyse, dass die geopolitische Fragmentierung ethnischer Gruppen ein wichtiger Treiber für zivile Konflikte ist. Ausserdem betonen wir, dass Nationalisten nicht nur auf aktuelle Ungerechtigkeiten reagieren, sondern sich oft auf ein vergangenes ?Goldenes Zeitalter? berufen.
Im Fall von Putin ist der Referenzpunkt die UdSSR, im Fall von Erdogan das Osmanische Reich. Es geht also nicht nur um einen Mangel an Einheit, sondern um einen Verlust an Einheit im Vergleich zu einem realen oder mythischen Punkt in der Geschichte, der sehr weit zurückliegen kann. Anhand von geokodierten Daten zu Staatsgrenzen und ethnischen Gruppen seit dem sp?ten 19. Jahrhundert k?nnen wir zeigen, dass gewaltsame Rebellionen gegen etablierten Staaten wahrscheinlicher sind, wenn ethnischen Gruppen durch die aktuellen Grenzen fragmentiert sind und wenn die Fragmentierung zunimmt.
In dem laufenden ERC-Projekt ?Nationalist State Transformation and Conflict? (NASTAC) erweitern mein Team und ich derzeit diese Forschung. Wir gehen noch weiter in die Vergangenheit zurück, um die historischen Wurzeln moderner Staaten und ethnischen Nationalismus zu untersuchen.
Kriege für gr?ssere Territorien
Bisher konnten wir die These des grossen Soziologen Charles Tilly best?tigen, dass Kriegsführung die Staatsbildung und territoriale Expansion der Grossm?chte im frühneuzeitlichen Europa vorantrieb. Wir weisen zudem nach, dass der Aufstieg des ethnischen Nationalismus diesen früheren Trend zu gr?sseren Staaten umkehrte. Tats?chlich schrumpfen die Staaten seit dem frühen 20. Jahrhundert stetig, gerade weil multiethnische Imperien zusammengebrochen sind.
Unsere Forschung best?tigt also, dass Nationalismus weiterhin die geopolitische Stabilit?t bedroht. Ich glaube, die kommenden Jahre werden zeigen, ob die liberalen Demokratien wieder an Schwung gewinnen oder ob wir in eine viel dunklere ?ra eintreten, die durch ethno-nationalistische Vorherrschaft und gewaltsame Konflikte gekennzeichnet ist. Vieles wird von den Entwicklungen im Westen abh?ngen – von den Machtk?mpfen innerhalb der USA und der EU, wo derzeit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und multiethnische Toleranz von lautstarken illiberalen Kr?ften in Frage gestellt werden. Letztlich beruht der Glaube an eine liberale Weltordnung darauf, wie erfolgreich sie ist, der Gesellschaft Wohlstand und Sicherheit zu bieten. Scheitert sie in diesen entscheidenden Punkten, bin ich davon überzeugt, dass wir noch mehr populistischen Nationalismus und neoimperialistische Abenteuer sehen werden.
Seraina Rüegger und Guy Schvitz haben an diesem Blogbeitrag mitgearbeitet – sie sind auch zusammen mit Cederman Co-Autorin und Co-Autor des Artikels ?Redemption through Rebellion: Border Change, Lost Unity and Nationalist Conflict?, der demn?chst im American Journal of Political Science erscheint.
Referenzen
Cederman LE: Blood for Soil: The Fatal Temptations of Ethnic Politics Foreign Affairs 98: 61, 2019
Cederman, LE. Nationalism and Ethnicity. In The Handbook of International Relations, eds. Walter Carlsnaes, Thomas Risse and Beth Simmons, Sage, 2013