«Das Abwasser liefert repräsentative Daten zu den Virusvarianten»

ETH-News: Herr Beerenwinkel, wie steht es um die Delta-Variante des Coronavirus in der Schweiz?
Niko Beerenwinkel: Erfreulicherweise steckten sich in der Schweiz in den letzten Wochen immer weniger Menschen mit dem Coronavirus an. Unter den zirkulierenden Viren nimmt die Delta-Variante aber zu. Das zeigen Daten von Kollegen hier am Departement f¨¹r Biosysteme, welche bei einem Teil der in der Schweiz gemachten PCR-Tests das Virusgenom sequenziert und somit die Virusvariante bestimmt haben. Auch Abwassermessungen, an denen wir beteiligt sind, zeigen diese Zunahme deutlich. Bei Proben aus Schweizer Kl?ranlagen bis zum 20. Mai konnten wir die Delta-Variante noch nicht nachweisen. Deren H?ufigkeit lag damals unter der Nachweisgrenze. In den j¨¹ngsten analysierten Proben bis zum 15. Juni finden wir die Delta-Variante aber bereits in f¨¹nf von sechs untersuchten Kl?ranlagen. Nach unseren Sch?tzungen machte die Variante am 15. Juni in Z¨¹rich 33 Prozent und in der Region Bern (Sensetal) 48 Prozent aller nachgewiesenen Corona-RNA-Molek¨¹le aus. In den anderen untersuchten Kl?ranlagen war der Delta-Anteil geringer.

K?nnen Sie uns kurz erkl?ren, wie Sie aus den Abwasserproben die Virusvarianten bestimmen?
Infizierte Personen scheiden Virus-RNA unter anderem mit dem Stuhl aus. In den Abwasserproben finden wir dann in der Regel nur noch RNA-Fragmente, die nicht mehr infekti?s sind, und keine intakten Viren. Kollegen der Eawag und EPFL nehmen derzeit in sechs Schweizer Kl?ranlagen t?glich Abwasserproben und isolieren daraus diese RNA-Fragmente. Kollegen des Functional Genomics Center Z¨¹rich sequenzieren die RNA, das heisst sie bestimmen die RNA-Bausteinabfolge. Wir analysieren die Daten dann mit Bioinformatik-Methoden, woraus wir die H?ufigkeiten der verschiedenen Virusvarianten absch?tzen k?nnen.

Wie Sie sagten, werden in der Schweiz auch bei PCR-Tests die Virusvarianten bestimmt. Wozu braucht es die Abwasseranalysen?
Abwasseranalysen haben zwei wesentliche Vorteile: Erstens sind diese Daten f¨¹r das Einzugsgebiet einer Kl?ranlage wirklich repr?sentativ. Untersucht man hingegen die Virusvarianten in Proben von Patienten, besteht immer die Gefahr, dass die Daten leicht verzerrt sind, zum Beispiel weil sich nicht alle Personen testen lassen. Zweitens ist unsere Methode vergleichsweise kosteng¨¹nstig. Indem wir wenige Abwasserproben sequenzieren, erhalten wir belastbare Aussagen zum Verh?ltnis der verschiedenen Virusvarianten. Um mit Patientenproben die gleiche Genauigkeit zu erhalten, muss man eine sehr viel gr?ssere Probenzahl sequenzieren.  

Wie steht es um Nachteile der Abwassermessungen?
Virusvarianten sind im Abwasser manchmal schwer zu unterscheiden, n?mlich dann, wenn eine Variante wenige charakteristische Mutationen aufweist oder sich mehrere Varianten solche Mutationen teilen. Es ist auch schwierig, aus den Abwassermessungen die absolute Zahl von infizierten Personen zu berechnen, weil Umweltfaktoren wie zum Beispiel starker Niederschlag die Konzentration von Corona-RNA-Molek¨¹len im Abwasser beeinflussen. Die Molek¨¹le sind dann im Abwasser stark verd¨¹nnt. Falls die Corona-Fallzahlen im Sommer noch weiter sinken, wird der Virusnachweis im Abwasser irgendwann wohl nicht mehr funktionieren. Ab einer gewissen Virus-Inzidenz eignen sich Abwassermessungen aber sehr gut, um das Verh?ltnis verschiedener Virusvarianten zu einem bestimmten Zeitpunkt zu berechnen und um zu beobachten, wie sich dieses Verh?ltnis mit der Zeit ?ndert. Darin liegt unser Hauptinteresse.

Weswegen sind diese Daten interessant?
Aus den Ver?nderungen dieses Verh?ltnisses kann man errechnen, ob und um wie viel eine neue Variante leichter ¨¹bertragbar ist als eine alte Variante. Weil die Abwasserdaten das Mittel ¨¹ber eine grosse Personenzahl repr?sentieren, sind die Berechnungen mit diesen Daten genauer und mit weniger Unsicherheit behaftet. Wir k?nnen somit fr¨¹h vorhersagen, ob eine neue Variante als besorgniserregend einzustufen ist oder nicht.

Sie ver?ffentlichen Ihre Resultate auf Ihrer Website. Die neusten verf¨¹gbaren Daten stammen vom 15. Juni, also von vor 2 Wochen. Ginge die Analyse auch schneller?
Wir und die anderen beteiligten Wissenschaftler haben dieses Projekt als Forschungsprojekt gestartet. Es ging uns darum aufzuzeigen, dass solche Messungen ¨¹berhaupt m?glich sind. Wir streben jetzt die Ver?ffentlichung der Daten zwei Wochen nach Probenentnahme an. Das klappt aber nur, wenn alle molekularbiologischen und bioinformatischen Analysen beim ersten Versuch fehlerfrei gelingen. M?chte man diese Messungen in Zukunft ¨C zum Beispiel im Auftrag der Beh?rden ¨C als Fr¨¹hwarnsystem nutzen, also um noch schneller und regelm?ssiger Informationen zu neuaufkommenden Varianten zu erhalten, so m¨¹sste die auf Forschung ausgerichtete Infrastruktur diesem Ziel angepasst werden. Das ist sicher m?glich, aber jenseits unserer Forschungst?tigkeit.