Warum wir uns für das Klimaschutz-Gesetz positionieren
Der politische Diskurs ist entscheidend für eine funktionierende Demokratie. Gerade bei komplexen Themen wie dem Klimawandel sollten sich auch Wissenschaftler:innen mit ihrer Expertise einbringen und zur Meinungsbildung beitragen, schreibt Reto Knutti.
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Mehr als 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Schweizer Universit?ten und Forschungsanstalten unterstützen das Klimaschutz-Gesetz. Die Expert:innen aus den Bereichen Klima, Energie, Umwelt und Nachhaltigkeit sowie weiteren Fachrichtungen mit Bezug zum Klimawandel ver?ffentlichten dazu eine Stellungnahme.1
Mit dem Klimawandel haben wir ein ernsthaftes Problem. Die naturwissenschaftlichen Fakten, die gesellschaftlichen Erkenntnisse von ?hnlich gelagerten Problemen sowie die technischen und wirtschaftlichen Analysen lassen keinen anderen Schluss zu: Um das Problem an der Wurzel zu packen, müssen wir die CO2-Emissionen auf Netto-Null reduzieren. Dazu hat sich die Schweiz unter dem Pariser ?bereinkommen verpflichtet. Unser Land und andere Industrienationen stehen in der Verantwortung, denn wir haben das Problem mitverursacht. Zudem haben wir die finanziellen und technischen M?glichkeiten, etwas dagegen zu tun. Die Schweiz hat eine Vorbildrolle - was wir tun, macht einen Unterschied. Und: Wenn wir uns engagieren, werden wir davon profitieren.
Das Klimaschutz-Gesetz st?rkt die Schweiz
Aus Erfahrung wissen wir: Bei Umweltproblemen reichen Eigenverantwortung und spontane Innovation nicht aus. Von Abfall, Abwasser und Luftqualit?t über das Ozonloch, Phosphat und Asbest bis hin zur Pandemie: Immer war ein politischer Rahmen n?tig, damit alle zur L?sung beitragen, die dann auch allen zugutekommt. Nach Jahren des politischen Stillstands haben die Stimmbürger:innen am 18. Juni die Chance, die Schweiz in Sachen Klima- und Energiepolitik einen wichtigen Schritt voran zu bringen.
?Gerade bei Volksentscheiden, in denen wissenschaftliche Zusammenh?nge eine zentrale Rolle spielen, ist es wichtig und richtig, dass auch Wissenschaftler:innen dazu Stellung nehmen und einordnen.?Reto Knutti
Das Klimaschutz-Gesetz2 ist breit abgestützt. Es schafft Verbindlichkeit und Planungssicherheit, f?rdert zukunftstaugliche Innovation und erh?ht gleichzeitig die Wettbewerbsf?higkeit der Schweizer Unternehmen. In vielen Bereichen setzt das Klimaschutz-Gesetz den Weg fort, den international t?tige Schweizer Firmen heute schon erfolgreich gehen. Es reduziert die Risiken, erh?ht die Energiesicherheit und leistet einen Beitrag zu einer lebensfreundlichen Welt.
Kurz: Mit dem Klimaschutz-Gesetz st?rken wir die Schweiz. Davon bin ich überzeugt, ebenso wie die mehr als 200 Wissenschaftler:innen, die unseren Vorstoss stützen. In unserer Stellungnahme zeigen wir auf, warum wir das tun.1
Kontext liefern und einordnen
In der Vergangenheit wurde oft kritisiert, wenn Wissenschaftler:innen sich in politische Debatten einbringen. Solch aktivistische “Einflussnahme” sei unsachlich, ja zutiefst anti-wissenschaftlich. Wissenschaftler:innen sollten vorurteils- und wertfrei forschen, sich politisch aber nicht ?ussern.
Ich z?hle mich zu jenen Fachleuten, die ihre Aufgabe anders verstehen: Gerade weil wir Wissenschaftler:innen sind, erachten wir es als unsere Pflicht, uns einzumischen. Voraussetzung dafür ist, dass wir über die n?tige Expertise verfügen und aus wissenschaftlicher Sicht argumentieren. W?hrend Politiker:innen gerne auf unsere Expertise zurückgreifen, ist sie für die breite ?ffentlichkeit weit weniger verfügbar. Gerade bei Volksentscheiden, in denen wissenschaftliche Zusammenh?nge eine zentrale Rolle spielen, ist es wichtig und richtig, dass auch Wissenschaftler:innen dazu Stellung nehmen und einordnen.
Als Forschende erarbeiten wir prim?r Grundlagen, aber auch Entscheidungshilfen und L?sungen. Wir denken in Szenarien, bewerten Optionen und analysieren Kosten, Nutzen und Risiken. Die Ziele legen Politik und Gesellschaft fest. Doch nicht jede Situation l?sst sich wissenschaftlich isoliert und nüchtern betrachten. Denn oft sind gesellschaftliche Priorit?ten im Spiel. Insbesondere beim Klimawandel kann Forschung heute kaum mehr unpolitisch sein: Die Aussage, dass die Schweiz ihre CO2-Emissionen rasch reduzieren muss, ist einerseits eine rein logische Schlussfolgerung aus der Physik und der Verpflichtung aus dem ?bereinkommen von Paris, das die Schweiz ratifiziert hat, und andererseits als Forderung politisch.
?Entscheidend ist, dass wir bei unserer Interpretation die Werte, Priorit?ten und Kriterien transparent machen und auch m?gliche andere Bewertungen diskutieren.?Reto Knutti
Der Anspruch, dass Wissenschaft v?llig wertefrei sein muss, ist weder m?glich noch wünschenswert. Forschung muss wissenschaftlichen Prinzipien genügen, objektiv und reproduzierbar sein. Jede Forschung wird jedoch unweigerlich durch das gesellschaftspolitische Umfeld gepr?gt. Entscheidend ist, dass wir bei unserer Interpretation die Werte, Priorit?ten und Kriterien transparent machen und auch m?gliche andere Bewertungen diskutieren.3
Nicht zuletzt kommt der modernen Wissenschaft auch eine Rolle als Fakten-Checker zu: In einer Zeit, in der vermeintliche Realit?ten und gezielte Desinformation auf Plakaten und sogar auf offiziellen Partei-Webseiten verbreitet werden, müssen Forschende mit ihrer Expertise klarstellen, was stimmt und was nicht. Tun wir es nicht, werden andere Akteure mit Partikul?rinteressen ihre eigenen Interpretationen liefern.
Dialog und Kommunikation als Auftrag
Der ETH-Bereich hat einen strategischen Auftrag ?Engagement und Dialog mit der Gesellschaft?4, und auch die Politik will den Austausch mit der Wissenschaft st?rken.5, 6 Basis dafür ist Transparenz, gegenseitiges Vertrauen und ein Verst?ndnis der Rollen. Dass dabei Spannungsfelder entstehen, ist unvermeidlich.
In der ?ffentlichkeit Stellung zu beziehen, k?nnte in gewissen Kreisen unsere Glaubwürdigkeit beeintr?chtigen.7 Schweigen fordert jedoch einen viel h?heren Preis: für den Planeten, für die Gesellschaft und für den Wert von Fakten und Wissenschaft im politisch-medialen Diskurs.
Wir erachten das Klimaschutz-Gesetz als wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Deshalb bringen wir uns ein und tragen zu einer faktenbasierten Meinungsbildung bei.
1 externe Seite Stellungnahme zum Klimaschutz-Gesetz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Schweizer Hochschulen.
2 ?externe Seite Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die St?rkung der Energiesicherheit? und externe Seite Klimaschutzgesetz-ja.ch
3 Université de Lausanne (Competence Centre in Sustainability): externe Seite Research and public engagement of researchers.
4 ETH-Rat: ?Gemeinsame Initiativen? der Institutionen des ETH-Bereichs: ?externe Seite Engagement und Dialog mit der Gesellschaft?
5 Bundeskanzlei: externe Seite Bundesrat m?chte wissenschaftliches Potenzial in Krisenzeiten besser nutzen
6 Schweizer Parlament: externe Seite Motion Reichmuth Othmar. Einbezug der Wissenschaft in der Klimapolitik st?rken.
7 Arthur Lupia: externe Seite Political endorsements can affect scientific credibility. Nature News and Views (20 March 2023)