Aus Freude am Problemlösen
An der ETH einen Sommer lang zum ersten Mal ein eigenes Forschungsprojekt umsetzen und über die Zukunft der Hochschule diskutieren? Diese Chance haben die beiden Studentinnen Katherine Bancroft und Siqi Liu gepackt. M?glich macht das ein neues Programm des ETH-Informatikdepartements.
Was braucht es, damit maschinell lernende Computer auch mehr- oder vieldeutige W?rter verstehen k?nnen? Wie lassen sich sehr komplexe Aussagen in einfache zerlegen, so dass man sie besser verschlüsseln und am Computer sicher austauschen kann?
Das sind die Fragen, mit denen sich die Kanadierin Katherine Bancroft und die Chinesin Siqi Liu besch?ftigen. Die beiden Studentinnen haben soeben an einer anderen Universit?t ihr zweites respektive ihr drittes Studienjahr abgeschlossen. An der ETH Zürich führen sie in diesem Sommer ihr erstes eigenes Forschungsprojekt durch.
Beide haben vom ETH-Informatikdepartement eine ?Student Summer Research Fellowship? erhalten. Dieses F?rderstipendium gibt Informatikstudierenden aus aller Welt die Chance, im ?IT-Biotop Zürich? zwei Monate lang Forschungserfahrung zu sammeln und etwas Neues auszuprobieren. ?ber 1200 Studierende haben sich für dieses erstmals vergebene, vom Rektorat mit Mitteln der Huber-Kudlich-Stiftung unterstützte Programm beworben. 15 von ihnen haben es geschafft.
Eine neue ?Forschungskultur? kennenlernen
Die Interessen von Bancroft und Liu spiegeln die Breite der Informatik, die seit ihren Anf?ngen eine mathematische Seite mit einer technischen verbindet: Liu fühlt sich st?rker zu der theoretischen Informatik hingezogen. Nach dem Schulabschluss in Peking zog sie in die USA, wo sie seither an der Universit?t von Kalifornien in Berkeley Computerwissenschaften studiert. In Zürich will sie beim Kryptografie-Experten Ueli Maurer ihr Wissen über Informationssicherheit und Verschlüsselungstheorie erweitern und eine neue ?Forschungskultur? kennenlernen.
Bancroft ihrerseits ist froh, dass ihr Projekt eher experimentell als theoretisch ausgerichtet ist: ?Ich m?chte hier handfeste Forschungserfahrung sammeln?, sagt sie. Bancroft studiert Computer Engineering an der Universit?t Toronto.
Im Team von Thomas Hofmann, einem Experten für Datenanalytik und maschinelles Lernen, untersucht sie nun, wie Computer natürliche Sprachen besser verstehen k?nnen. In ihrem Projekt geht es darum, bestehende Computersprachmodelle so zu verbessern, dass sie auch vieldeutige W?rter sinnvoll verarbeiten k?nnen.
Weg nicht vorgezeichnet
Heute haben Computer ein Problem, wenn sie komplexe S?tze mit nicht-eindeutigen W?rtern verstehen sollen – Bancroft sch?tzt solche Herausforderungen. Die ?Freude am Probleml?sen? habe sie zur Informatik gebracht: ?Mich reizen Probleme, bei denen ich streng mathematisch nachdenken und zugleich meine technischen F?higkeiten einsetzen kann.?
Ihr Weg in die Informatik war aber nicht von Anfang vorgezeichnet. Ursprünglich erwog sie, Betriebs?konomie oder Umweltwissenschaften zu studieren. Erst ein Einführungskurs im Programmieren best?rkte sie darin, dass Informatik das Richtige für sie ist.
Auch Liu zog zu Beginn noch andere F?cher in Betracht – zumal sie keine exakten Vorstellungen besass, was genau die ?Computerwissenschaften? beinhalteten. Bei ihr weckte ein Einführungskurs in Wahrscheinlichkeitstheorie das Interesse: ?In dem Kurs wurde mir klar, dass Informatik viel mehr ist als nur Programmieren, und dass sie ebenso spannend ist wie reine Mathematik?, erinnert sich Liu und nennt algorithmische Spieltheorie sowie Kryptografie ihre ?Steckenpferde?.
In ihrem Projekt in Zürich arbeitet sie eng mit einer ETH-Doktorandin zusammen: ?Uns interessiert, ob eine Person einer anderen Person, die nur beschr?nkte Kenntnisse davon hat, gewisse Aussagen beweisen kann. Dabei soll die beweisende Person der anderen kein zus?tzliches Wissen über die Aussagen verraten.?
In ihrem Projekt wollen sie einen Weg finden, wie sie wahre, aber sehr komplexe Aussagen in einfache zerlegen k?nnen, um dann, wenn die Wahrheit der einfachen Aussagen bewiesen ist, auch die Wahrheit der komplexen nachweisen zu k?nnen.
Kulturelle Vielfalt als Besonderheit
In Ueli Maurers Forschungsgruppe gef?llt Liu, wie offen die Teammitglieder ihre pers?nlichen Ansichten und Ideen in die Diskussion einbringen k?nnen – generell sagt ihr die Internationalit?t der Hochschule zu. ?Die ETH bringt Forschende mit sehr unterschiedlichem wissenschaftlichen Hintergrund und verschiedenen Denkweisen zusammen. Das gef?llt mir?, sagt Liu.
Bancroft ihrerseits beeindruckt die kulturelle Vielfalt der Schweiz: ?Mich fasziniert, wie stark die übergreifende kulturelle Identit?t der Schweiz ist, wo sich jede Region so deutlich von den anderen unterscheidet.?
Neben ihrer Projektarbeit treffen sich die beiden Studentinnen auch regelm?ssig mit den anderen Studierenden aus dem Programm. Schliesslich wohnen die insgesamt 15 Forschungs-Fellows in der gleichen Unterkunft der studentischen Wohngenossenschaft Woko. Dort wohnen auch 21 Studierende, die im Rahmen des ?Amgen Scholars Program? derzeit ein lebens- oder biowissenschaftliches Forschungsprojekt an der ETH umsetzen.
Forschungsnahes und projektorientiertes Lernen sind Teil einer Strategie, mit der die ETH Zürich Studierende aus aller Welt sowohl zu hervorragenden Fachleute ausbilden will als auch zu kritischen Mitgliedern ihrer Gesellschaft, die Verantwortung übernehmen.
Die Ressourcenfrage pr?gt die Zukunft
Dass sich Studierende wie Liu und Bancroft damit auseinandersetzen, wie sich Wissenschaft und Technologie auf die Gesellschaft auswirken, zeigten sie an einem Workshop Mitte August. Eingeladen von den Projektverantwortlichen der beiden Programme, Minh Tran (Departement Informatik) und Nicole Tobler (ETH-Mobilit?tsstelle), diskutierten sie die Frage, welchen gesellschaftlichen Megatrends sich die Hochschulen in Zukunft stellen müssten und wie die Universit?t der Zukunft ganz unabh?ngig von m?glichen Trends aussehen k?nnte.
Aus der Sicht der Studierenden sind Universit?ten vor allem im Zusammenhang mit der weltweiten Nutzung und Verteilung von Ressourcen gefordert, da sie mit Wissen und Technologien zur L?sung der damit verbundenen Gerechtigkeits-, Entwicklungs-, Umwelt- und Migrationsph?nomene beitragen k?nnen.
Anderseits enthielten neue Technologien wie die Künstliche Intelligenz auch Risiken oder ein gewisses Konfliktpotenzial: zum Beispiel k?nnte die ?ideologische Kluft? wachsen, wenn einzelne Gruppen in sozialen Medien nur noch jene News beachteten, die ihre eigene Meinung best?tigten.
Critical Thinking und Steuerung von Forschung
Kontrovers diskutierten die Studierenden, ob und inwiefern sich die Grundlagenforschung so steuern lasse, dass Risiken und negative Auswirkungen auf die Gesellschaft begrenzt würden, jedoch ohne die Forschungsfreiheit zu beschneiden.
Einige Studierende ?usserten sich auch zu ?Critical Thinking? in der Lehre: Sie merkten an, dass Universit?ten in der Ausbildung noch mehr Anreize für multidisziplin?res und kritisches Denken setzen sollten.