Die berechneten Anfänge der Corona-Epidemie
Analysen von ?ffentlich zug?nglichen Genomdaten liefern Hinweise auf die Anf?nge der Corona-Epidemie in China. Forschende des Departements für Biosysteme der ETH Zürich in Basel verwendeten dafür ein von ihnen in den vergangenen Jahren entwickeltes statistisches Modell.
Seit Beginn der aktuellen Corona-Epidemie haben Wissenschaftler und Beh?rden den genetischen Fingerabdruck von Virusproben aus zahlreichen betroffenen L?ndern bestimmt. ?ber 100 dieser Erbgutsequenzen, die in Coronaviren in der Form von RNA vorliegen, sind in ?ffentlichen Datenbanken verfügbar. Tanja Stadler, Professorin für Computational Biology am Departement für Biosysteme der ETH Zürich in Basel und Expertin für Fragen der molekularen Epidemiologie, hat diese Daten nun ausgewertet. Sie nutzte dazu ein in ihrer Gruppe entwickeltes statistisches Modell zur genetischen Stammbaumanalyse von Krankheitserregern und gewann damit neue Erkenntnisse zu den Anf?ngen der Epidemie in China.
Stadlers Auswertungen legen nahe, dass die Epidemie in China in der ersten Novemberh?lfte 2019 ihren Anfang nahm. Die meisten bisherigen Sch?tzungen gingen davon aus, dass das Virus erst in der zweiten Novemberh?lfte von einem Tier auf den ersten Menschen übergegangen ist. ?Die verbreitete Hypothese, wonach sich der erste Mensch im November auf einem Tiermarkt angesteckt hat, ist immer noch plausibel?, sagt die ETH-Professorin. ?Unsere Daten schliessen mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit aus, dass das Virus bereits vor diesem Zeitpunkt w?hrend langer Zeit in Menschen zirkulierte.?
Schnelle Ausbreitung vor der Quarant?ne
Ausserdem analysierte Stadler die Dynamik der Epidemie, bevor die Stadt Wuhan am 23. Januar 2020 unter Quarant?ne gestellt wurde. Die Wissenschaftlerin errechnete aus den genetischen Daten die Basisreproduktionszahl des neuen Coronavirus. Diese Zahl besagt, wie viele Menschen eine infizierte Person im Schnitt ansteckt. In der fraglichen Zeit liegt sie nach Stadlers Sch?tzungen zwischen 2 und 3,5. Damit best?tigt die Forscherin die bisherigen Sch?tzungen, welche auf der Anzahl der best?tigten Corona-F?lle beruhten und von einer Zahl zwischen 2 und 4 ausgegangen sind. Das heisst, die Ansteckungen erfolgen deutlich schneller als bei der saisonalen Grippe (mit einer Basisreproduktionszahl typischerweise unter 1,5).
?Die Basisreproduktionszahl ist eine der zentralen Kenngr?ssen einer Epidemie?, sagt Stadler. ?Sie liefert wichtige Hinweise auf die Wirksamkeit von Massnahmen wie zum Beispiel einer Quarant?ne. Nur wenn Bek?mpfungsmassnahmen diese Zahl zu senken verm?gen, sind diese auch wirksam.? Interessant w?re es daher für die Wissenschaftlerin, diese Zahl w?hrend der Quarant?ne von Wuhan ermitteln zu k?nnen. Allerdings sei die Datenlage für diese Zeit in Wuhan unübersichtlich, was eine verl?ssliche Analyse momentan verunm?gliche, sagt Stadler.
Dunkelziffer berechnet
Die Virusgenome ver?ndern sich laufend. Basierend auf diesen Ver?nderungen rekonstruierte Stadler den genetischen Stammbaum des Virus. ?Mit statistischen Methoden k?nnen wir für jeden Zeitpunkt in der Vergangenheit errechnen, wie viele Personen damals angesteckt waren?, erkl?rt Stadler. Diese Analyse ergab, dass am 23. Januar bereits zwischen 4000 und 19’000 Personen angesteckt sein mussten. Zu diesem Zeitpunkt gab es 581 best?tigte Krankheitsf?lle. Das heisst: Im extremsten Fall tauchte nur 1 von 33 infizierten Personen in der offiziellen Statistik auf, im besten Fall 1 von 7 Personen.
Stadler betont, dass es noch andere Methoden als ihre gebe, um epidemiologische Kenngr?ssen zu ermitteln. Ihre Methode, welche die Genome analysiert, habe jedoch den grossen Vorteil, dass sie auch mit Daten von verh?ltnism?ssig wenig Patienten verl?ssliche Rückschlüsse erlaube. Insbesondere b?te ihre Methode Vorteile in Situationen, in welchen nicht mehr klar ist, wer wen angesteckt hat. In unserem Nachbarland Italien ist das derzeit der Fall, in China schon l?nger.
Echtzeitanalyse w?re m?glich
Schliesslich würde ihre Methode sogar die Echtzeitanalyse einer Epidemie erm?glichen. Beh?rden k?nnten damit die Wirksamkeit von Bek?mpfungsmassnahmen laufend überprüfen und anpassen. Voraussetzung dafür w?re, dass das Virusgenom bei neuinfizierten Personen durch regelm?ssige Stichproben ermittelt wird. Aus Wuhan werden allerdings derzeit kaum Sequenzdaten von Virusgenomen ver?ffentlicht.
Stadler und ihre Kollegen haben ihre Analyse auf dem Fachportal ?Virological? anderen Wissenschaftlern zug?nglich gemacht. Die ETH-Forschenden betonen, dass ihre Arbeit jedoch nicht von anderen Wissenschaftlern begutachtet worden ist, wie das in der Forschung grunds?tzlich Standard ist. In einer aktuellen Lage wie dieser würde dies zu lange dauern. Ebenso betont die ETH-Professorin, dass die Qualit?t ihrer Analyse nur so gut sein kann, wie die Qualit?t und Anzahl der ver?ffentlichten Gendaten. In dieser Studie wurden 93 RNA-Sequenzen analysiert, von denen der Grossteil aus China stammt, 38 stammen aus anderen L?ndern. Stadler wird ihre Analyse fortsetzen, um neu ver?ffentlichte Genomdaten zu erweitern.
Literaturhinweis
Scire J, Vaughan T, Stadler T: externe Seite Phylodynamic Analyses based on 93 genomes, hochgeladen am 25. Februar 2020 auf virological.org