Stresstests für das Schweizer Stromsystem
Forschende der ETH Zürich und der ZHAW Winterthur simulieren in einer neuen Studie, wie das zukünftige Schweizer Stromsystem aufgestellt sein k?nnte, um einen drastischen Einbruch der Gas- und Stromimporte zu verkraften. Damit wollen sie einen Beitrag zur Diskussion um die Versorgungssicherheit der Schweiz leisten.?
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In Kürze
- Die Modellrechnungen der Forschenden zeigen, dass ein zukünftiges Stromsystem eine vorübergehende Reduktion des Stromhandels um bis zu 70 Prozent ohne zus?tzliche Massnahmen verkraften k?nnte.
- Wenn keine Gasimporte zur Verfügung stehen, k?nnten mit Flüssigbrennstoff betriebene Kraftwerke eine wichtige Rolle spielen, um Importschocks auszugleichen.
- Neue Kernkraftwerke sind im Modell der Forschenden nur im unrealistischen Fall sinnvoll, wenn alle zwei Jahre mit einem Totalausfall der Stromimporte gerechnet wird und gleichzeitig Gasimporte nicht m?glich sind.
Gem?ss dem Klima- und Innovationsgesetz m?chte die Schweiz ihre Energieversorgung bis 2050 CO2-neutral gestalten. Der durch die Elektrifizierung von Verkehr und W?rme steigende Strombedarf soll vor allem durch Wasserkraft, Sonnen- und Windenergie sowie durch Importe gedeckt werden. Die bestehenden Kernkraftwerke sind dann nicht mehr in Betrieb.
Doch wie abh?ngig darf ein stabiles Energiesystem vom Ausland sein? Diese Frage steht sp?testens seit dem Einbruch der russischen Gaslieferungen im Zentrum der energiepolitischen Diskussionen der Schweiz. Vor allem die letzten beiden Winter wurden von der Angst einer Strom- und Gasmangellage überschattet.
Forschende der ETH Zürich und der ZHAW Winterthur simulieren nun in einer neuen Studie verschiedene Schockszenarien für das klimaneutrale Schweizer Energiesystem im Jahr 2050. Und zeigen auf, wie dieses aussehen müsste, um drastische Einschr?nkungen des grenzüberschreitenden Stromhandels m?glichst günstig, sicher und nachhaltig kompensieren zu k?nnen.
?Welche Technologien ?konomisch sinnvoll sind, h?ngt davon ab, wie stark und h?ufig die Importm?glichkeiten einbrechen?, erkl?rt Ali Darudi, Energieforscher an der ZHAW Winterthur und einer der Studienautoren. Das Modell der Forschenden k?nnte dazu beitragen, die Diskussion um die Versorgungssicherheit in der Schweiz sachlich zu führen.
Importschocks simulieren
Bei ihren Berechnungen für das Jahr 2050 folgen die Forschenden den Energieperspektiven des Bundes und gehen von einem j?hrlichen Bedarf von 76 Terawattstunden (TWh) aus. Als Ausgangspunkt definieren sie ein m?glichst günstiges Energiesystem der Zukunft, ohne dabei auf die politisch definierten Ausbauziele und eine zu grosse Abh?ngigkeit vom Ausland Rücksicht zu nehmen. So deckt das Modell den Bedarf jeweils zu 45 Prozent mit günstigem Strom aus dem Ausland und mit Wasserkraft. Der Rest entf?llt vor allem auf Photovoltaik und Windkraft.
Dieses Energiesystem setzen die Forschenden verschiedenen Schocks aus: Sie modellieren Szenarien, bei denen die Stromimporte in die Schweiz ein Jahr lang unterschiedlich stark und h?ufig einbrechen und Gasimporte im Schockjahr m?glich sind oder nicht. Um diese Importschocks m?glichst günstig auszugleichen und dabei immer genügend Strom zur Verfügung zu haben, testen die Studienautoren einen Mix verschiedener Technologien – von Reservekraftwerken, die mit Gas oder Flüssigbrennstoffen betrieben werden, über zus?tzliche Photovoltaik- und Windkraftanlagen, bis hin zu verschiedenen Speichertechnologien und neuen Kernkraftwerken.
Dabei berücksichtigen die Forschenden sowohl die gesch?tzten Investitions- als auch die Betriebskosten dieser Technologien. Zentral für die Analyse ist ausserdem, dass der Kraftwerkspark im Gegensatz zu bisherigen Studien immer für den Betrieb unter normalen Bedingungen und das Schockszenario gemeinsam geplant wird.
Wie robust ist das Energiesystem der Zukunft?
Die Modellrechnungen zeigen, dass das System eine einj?hrige Reduktion der Importkapazit?t um bis zu 70 Prozent ohne zus?tzliche Massnahmen verkraften k?nnte. M?glich w?re dies vor allem durch die Reserven der Wasserkraft: ?Die Schweizer Stauseen k?nnen knapp neun Terawattstunden Strom speichern. Zusammen mit den verbleibenden Importm?glichkeiten kann so die fehlende Verfügbarkeit ausgeglichen werden?, sagt Jonas Savelsberg vom Energy Science Center der ETH Zürich.
?Je seltener es zu einer drastischen Einschr?nkung des Stromhandels mit dem Ausland kommt, desto kompetitiver werden Technologien mit hohen Betriebs- aber geringen Investitionskosten.?ETH-Forscher Jonas Savelsberg
Erst wenn die M?glichkeit zum Stromhandel um mehr als 70 Prozent reduziert wird, braucht es zus?tzliche Produktionskapazit?ten, um die Nachfrage zu decken. Welche Technologien günstig und effizient sind, um Importausf?lle auszugleichen, h?ngt davon ab, wie stark und h?ufig ein Schock ausf?llt. Dabei gilt gem?ss ETH-Forscher Savelsberg: ?Je seltener es zu drastischen Einschr?nkungen des Stromhandels mit dem Ausland von 70 Prozent und mehr kommt, desto effizienter lassen diese sich mit Technologien bew?ltigen, die zwar hohe Betriebs- aber geringe Investitionskosten aufweisen.? Dazu z?hlen vor allem Reservekraftwerke, die mit Gas oder Flüssigbrennstoff betrieben werden.
Flüssigbrennstoff-Kraftwerke
In den meisten Szenarien, in denen keine Gasimporte zur Verfügung stehen, der Stromhandel um 90 bis 100 Prozent begrenzt wird und dies lediglich alle 10 bis 100 Jahre geschieht, k?nnen Kraftwerke, die mit Flüssigbrennstoffen wie Benzin, ?l oder synthetischen Brennstoffen betrieben werden, eine wirtschaftlich sinnvolle Option sein.
Diese Anlagen sind relativ günstig in der Anschaffung, aber teuer im Betrieb: Der Grund dafür ist, dass die entstehenden CO2-Emmissionen aus der Luft gefiltert, oder die Kraftwerke mit teuren synthetischen Brennstoffen betrieben werden müssen. Die hohen Betriebskosten fallen aber über die gesamte Lebensdauer dieser Kraftwerke weniger ins Gewicht, da sie nur sehr selten genutzt werden. Zudem verfügt die Schweiz bereits über betr?chtliche Kapazit?ten zur Lagerung von flüssigen Brennstoffen, die auf Grund der Dekarbonisierung des Energiesystems bis 2050 nicht voll ausgelastet sein dürften.
Erst wenn man davon ausgeht, dass die Schweiz alle zwei bis fünf Jahre fast oder ganz ohne Stromimporte auskommen muss, werden Technologien mit hohen Investitionskosten und tiefen Betriebskosten sinnvoller. Dazu z?hlen Photovoltaik oder Windkraft und in sehr extremen Schockszenarien auch die Kernkraft.
Gaskraftwerke
Sind dagegen in einem Schockjahr Gasimporte aus dem Ausland m?glich, stützt sich das Modell vor allem auf Reservegaskraftwerke, um die wegfallenden Stromimporte zu kompensieren. Auch hier müssen die anfallenden CO2-Emmissionen teuer aus der Luft gefiltert werden.
?Gasimporte spielen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung eines robusten Schweizer Energiesystems?, sagt Savelsberg. Sobald Gasimporte verfügbar sind, stellen auch Kernkraftwerke keine ?konomisch sinnvolle Option mehr dar, um Schocks auszugleichen. ?Die Verfügbarkeit von Gas reduziert die wirtschaftlichen Anreize in neue Kernkraftwerke zu investieren?, so der ETH-Forscher.
Kernkraft und Wasserstoff
Neue Kernkraftwerke sind in den Modellrechnungen der Forschenden erst dann ?konomisch sinnvoll, wenn man von einem vollst?ndigen Ausfall der Stromimporte alle zwei Jahre ausgeht und gleichzeitig Gasimporte nicht m?glich sind. ?Nur in diesem unrealistischen Szenario würden die sehr hohen Investitionskosten neuer AKWs durch deren relativ tiefe Betriebskosten ausgeglichen?, erkl?rt ZHAW-Forscher Darudi.
Dabei gehen die Forschenden von Investitionskosten in H?he von 10'000 Euro pro Kilowatt (kW) aus. Dies entspricht in etwa den Kosten, die zahlreiche andere Studien für den Bau neuer AKWs in Europa annehmen. Die Forschenden haben aber auch Szenarien mit geringeren Kosten getestet und kommen zu ?hnlichen Ergebnissen.
Nachhaltig hergestellter Wasserstoff kommt als ausgleichender Stromspeicher nur in jenen Schockszenarien zum Einsatz, in denen die Strom- und Gasimporte alle zwei bis zehn Jahre komplett ausfallen. Insgesamt handelt es sich hierbei jedoch nur maximal um 2.5 TWh Stromerzeugung, was etwa 3% des Schweizer Bedarfs entspricht. Wenn hingegen Gasimporte zur Verfügung stehen, lohnt es sich nicht auf den in seiner Herstellung teuren Wasserstoff zu setzen.
Robustheit der Analyse
Die Forschenden überprüften die Erkenntnisse der Studie zudem in einem weiteren modellierten Energiesystem. Dabei gingen sie davon aus, dass die Ziele aus dem Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien erreicht werden.
Hier werden rund 60 Prozent des Bedarfs durch Photovoltaikanlagen in der Schweiz produziert, der Rest entf?llt vor allem auf die Wasserkraft und Windenergie. Dadurch sinkt die Rolle von Stromimporten aus Nachbarstaaten und die Schweiz würde über das ganze Jahr hinweg etwa gleich viel Strom exportieren wie importieren.
Auch in diesem System kamen die Forschenden auf die gleichen Schlussfolgerungen: Reservekraftwerke, die mit Gas oder Flüssigtreibstoffen betrieben werden, sind auch hier die effizienteste L?sung, um seltenen Schocks zu begegnen.
Literaturhinweis
Darudi A, Savelsberg J, Schlecht I, Thrive in sunshine, brace for thunder. Least-cost robust power system investments under political shocks. Workingpaper ZBW – Leibniz Information Centre for Economics, externe Seite https://hdl.handle.net/10419/306555
Serie ?Energiel?sungen für die Schweiz?
Die Schweiz soll bis 2050 ihre Treibhausgasemissionen auf Netto-Null reduzieren. Dies erfordert eine fossilfreie Energieversorgung, die auf erneuerbaren und nachhaltigen Energiequellen beruht – eine enorme Herausforderung für das Land. Die ETH Zürich mit seinem Energy Science Center unterstützt die Energiewende in der Schweiz mit konkreten L?sungen aus den Bereichen Forschung, Lehre und Wissenstransfer.
Bereits erschienen:
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